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Mohamed Bouazizis Selbstmord löste die Proteste aus.

© dpa

Update

Proteste: Aufschrei der Mundtoten in Tunesien und Algerien

Erstmals begehren die Tunesier massenweise gegen Arbeitslosigkeit, Unterdrückung und Zensur auf – der Staat schlägt zurück. Auch in Algerien wird protestiert. Zwei Menschen sterben.

Bei Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten sind in Algerien nach Medienberichten mindestens zwei Menschen getötet worden. Ein 32-Jähriger habe bei einer Demonstration in Bou Ismail an der Küste eine Tränengas-Granate mitten ins Gesicht bekommen. In der Gegend von M'Sila sei ein 18- Jähriger an Schussverletzungen gestorben, berichtete die Zeitung „El Khabar“ am Samstag.

Zudem habe es in Bouira, etwa 130 Kilometer südöstlich von Algier, knapp 30 Verletzte gegeben, berichtete die Nachrichtenwebsite elwatan.com. Dort hätten Demonstranten am Samstag erneut Straßensperren aus brennenden Reifen errichtet. Auslöser der seit Tagen anhaltenden Unruhen waren die stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel.
Auch in Tunesien halten Unruhen an. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei sind dort nach Augenzeugenberichten mindestens fünf Menschen verletzt worden. Die Polizei habe im Ort Saida im Zentrum des Landes Tränengas eingesetzt und auf Demonstranten geschossen, hieß es am Samstag. Die Demonstranten hätten ihrerseits eine Polizeiwache mit Steinen angegriffen. Eine offizielle Bestätigung für die Ereignisse am Vorabend gab es zunächst nicht.
Das sonnige Urlaubsland Tunesien, das jährlich hunderttausende europäische Touristen anlockt, ist in Aufruhr. Seit drei Wochen breiten sich Proteste aller Bevölkerungsgruppen im gesamten Land aus; und weder die Entlassung eines Gouverneurs noch das brutale Durchgreifen der Sicherheitskräfte lassen die Menschen verstummen. Ging es zunächst um das Recht auf Arbeit und gegen Korruption, so wurden die Slogans schnell politisch und machten auch vor der Forderung, der seit 23 Jahren regierende Präsident Ben Ali möge zurücktreten, nicht halt. Von einer Revolution ist das Land, in dem extreme politische Unterdrückung herrscht und das keine Meinungsfreiheit kennt, weit entfernt. Aber es ist die größte Revolte seit Jahrzehnten.

Auslöser war eine Szene, wie sie jeden Tag überall in Tunesien zu beobachten ist: Die Polizei in der Kleinstadt Sidi Bouzid nimmt einem jungen Gemüsehändler die Ware weg, weil er angeblich keine Genehmigung zum Straßenverkauf hat. Möglicherweise wollten die Beamten auch Schutzgeld erpressen, um ihr Gehalt aufzubessern. Der 26-jährige Mohamed Bouazizi, der ein Universitätsdiplom in der Tasche hat und sich in einem Land der Massenarbeitslosigkeit durch den Händlerjob über Wasser hält, übergoss sich daraufhin mit Benzin und zündete sich an. Eine kleine Demonstration am nächsten Tag wurde von der Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas aufgelöst, woraufhin die Kleinstadt im Landesinneren explodierte. Die Demonstrationen greifen auf die Region über, ein weiterer junger Mann begeht Selbstmord, um auf das Problem der Arbeitslosigkeit besser Gebildeter hinzuweisen. Die Polizei schießt und tötet zwei Demonstranten. Am 25. Dezember gehen die Studenten in Tunis auf die Straße, Lehrer in Bizerte, und am 31. Dezember protestieren die Rechtsanwälte des Landes. Sie werden brutal angegriffen, ihre Roben zerfetzt und zwei Kollegen werden festgenommen.

Als Präsident Ben Ali erkennt, dass Repression allein nicht ausreicht, um den Flächenbrand einzudämmen, entlässt er drei Gouverneure und wechselt die Kommunikations- und Religionsminister aus – nur um einen Vertrauten seines Schwiegersohns ins Amt zu heben.

Hintergrund der Krise ist die hohe Arbeitslosigkeit, die insbesondere den Universitätsabgängern zu schaffen macht. Zwar hat sich in Schul- und Hochschulbildung viel getan in den letzten Jahrzehnten, doch die Diplomierten finden kaum Arbeit. Während weniger als fünf Prozent der ungelernten Arbeiter arbeitslos sind, erreicht die Quote laut einer Studie des Forschungszentrums „Carnegie International“ bei Universitätsabgängern 21,6 Prozent. Der Ökonom Abdeljelil Bedoui schätzt sie auf 32,4 Prozent. In Algerien ist die Situation ähnlich – und so sprangen die Proteste von Tunesien über.

Doch in keinem der Maghreb-Länder ist die politische Unterdrückung so stark wie in Tunesien, ist die Meinungsfreiheit so eingeschränkt. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ setzt Tunesien fast als Schlusslicht auf seinen Index der Pressefreiheit: auf Platz 164 von 178 Ländern. Seit Jahrzehnten werden in dem Polizeistaat kritische Geister eingekerkert, mundtot gemacht. Internetseiten werden blockiert. Es gibt keine unabhängigen Gewerkschaften, die Korruption ist verbreitet. Und der Präsident, der sich nur mit Wahlergebnissen von mehr als 99 Prozent bestätigen lässt, regiert, als sei das Land sein persönliches Eigentum. Es fehlt an unabhängigen Organisationen, um den Protest zu kanalisieren. Aber die Zeit des Schweigens scheint vorbei. (mit dpa)

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