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Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen

© imago images/localpic

Politik für die Mitte: Der grüne Wille zum Aufbruch und die Angst der anderen

Umfragehoch und eine inspirierende Annalena Baerbock: Die Grünen profitieren von einem Prozess, der vor Jahrzehnten begann. Eine Analyse.

Das waren Zeiten, als die Grünen – in welcher Schattierung ihrer Farbe auch immer – um den Einzug in die Parlamente kämpfen und bangen mussten. 1980 in Karlsruhe offiziell gegründet, haben sie sich so weit fortentwickelt, manchen sagen: auch von ihren linken Ursprüngen, dass sie heute nicht mehr über drei oder fünf Prozent Wähleranteil sprechen müssen, sondern über die Mehrheit reden können.

Die Grünen haben inzwischen in der Bevölkerung laut Umfragen einen Stimmenanteil von 30 Prozent und ein Potenzial von 60. Was heißt: Da geht noch mehr.

Woher das kommt? Durch ein Kommen und Gehen in den vergangenen 40 Jahren. Ein Beispiel: Vor genau 30 Jahren fand eine Bundesdelegiertenkonferenz in Neumünster statt. Dort wurden die Konsequenzen aus dem Scheitern bei der Wahl 1990 diskutiert; die (westdeutschen) Grünen hatten plakatiert: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.“

Unter dem Slogan stand: „Saurer Regen. Ozonloch. Smog. Klimakatastrophe … Wir wollen ein besseres Klima.“ Damals hatte das nicht gefruchtet. Heute ist das: die Wende. Hin zu den Grünen.

Über die haben sich die Grünen, nicht zuletzt durch den Zusammenschluss mit dem (ostdeutschen) Bündnis 90, von einer Sammelbewegung zu einer Partei verändert, von einer „Anti-Parteien-Partei“, wie es im Programm stand zu einer Reformpartei, als die sich dann definierte.

Erst Vizekanzler Joschka Fischer, bald Kanzlerin Annalena Baerbock?

Damit begannen sie den Weg in und durch die Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Bis nahezu an deren Spitze. Den Vizekanzler haben die Grünen schon einmal gestellt, Joschka Fischer. Und manche Vorhersage lautet: demnächst die erste grüne Kanzlerin, Annalena Baerbock.

Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne)
Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne)

© dpa/Sven Hoppe

Die realpolitische Ausrichtung ist unverkennbar, der Fundamentalismus früherer Jahre hat sich verabschiedet. Ökosozialisten und Radikalökologen traten aus, zu ihrer Zeit bekannte politische Köpfe, Ökolibertäre wie Winfried Kretschmann blieben.

Dazu die, die aus den Friedensbewegungen stammten, auch christlichen. Vertreter von K-Gruppen, nicht zuletzt maoistischen, wandten sich ab oder wandelten sich. Heute schreibt Kretschmann, seit Mai 2011 Ministerpräsident Baden-Württembergs, des Landes der bürgerlichen „Schaffer“, ein Buch über wohlverstandenen Konservativismus.

Vom linken Rand in der Mitte der Gesellschaft

Und so kommt es, dass die Grünen vom linken Rand in der Mitte der Gesellschaft angelangt sind. Eine Mehrheit der Bevölkerung will mehr Ökologie und Klimaschutz, sagt der Chef der Forschungsgruppe Wahlen, Matthias Jung.

„Um 60 Prozent der Wähler können sich heute grundsätzlich vorstellen, ihre Stimme auch mal den Grünen zu geben.“ Das umso mehr, als ihre Gründungsthemen jetzt endgültig die Themen der Zeit sind. Ihre Antworten sind dementsprechend selbstbewusst. Nach dem Motto: Wer von sich selbst nicht überzeugt ist, wie soll der andere überzeugen?

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg

© dpa/Marijan Murat

Dazu ein Auszug aus der programmatischen „Einladung“, Grün zu wählen: „Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann. Wir wissen, wie man eine sozial-ökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert. Wir wissen, wie wir in eine starke Gesundheitsversorgung und eine moderne Infrastruktur, in gute Schulen und öffentliche Räume, in einen gut funktionierenden und bürger*innennahen Staat investieren können.

Es ist möglich, Ungleichheit zu verringern, gleichwertige Lebensverhältnisse auf dem Dorf, in der Kleinstadt und in der Metropole herzustellen und Kinder ins Zentrum zu rücken. Wir können volle Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern erreichen und eine vielfältige Einwanderungsgesellschaft gestalten. Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Systemwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen. Aber Worte allein reichen nicht, wir müssen es auch tun. Jetzt ist die Zeit fürs Machen.“

Die Grünen sind in die Mitte gekommen

Machen wollen die Grünen, und wer sich die einzelnen Kapitel ihres Wahlprogramms anschaut, sieht den Anspruch: ihrem Willen zum Aufbruch. In ihrer Progressivität soll sie niemand übertreffen. Aber das klingt vor allem links.

Ob internationale Sicherheitspolitik oder nationale Haushaltspolitik – wer ihre Forderungen aufstellt und sie anonymisiert vorträgt, wird erleben, wie viele zustimmen, von links bis in die rechte Mitte. Woran deutlich wird: Die Grünen sind in die Mitte gekommen, um zu bleiben. Als neue Mitte.

So wie sich das Koordinatensystem verschoben hat, haben sich die Grünen geändert. Die Gesellschaft hat sich mehr den grünen Themen geöffnet, als umgekehrt die Grünen der Mehrheitsgesellschaft.

Die Chance der Unbekanntheit

Annalena Baerbock ist gegenwärtig vielen Wähler:innen noch unbekannt. Und doch liegt darin kein Nachteil, sondern vielmehr eine weitere Chance: Denn diese Kanzlerkandidatin wird damit zugleich zur Projektionsfläche für die Vorstellung von größerer Modernität nach 16 Jahren Kanzlerin Angela Merkel.

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Zumal alles das, was Baerbock sagt, ob zu Klimaschutz oder zum Geld fürs Militär, sowohl frisch als auch vernünftig klingt – schlicht mehrheitsfähig. Das ist eine Verlockung: Die Grünen von heute verheißen nicht alles radikal anders, aber evolutionär besser zu machen. Diese Politik stützt sich auf Strukturen, doch schützt sie nicht um ihrer selbst willen. Werte-, nicht Strukturkonservativismus – das hat schon Kretschmann ins Amt gebracht.

Die anderen Parteien beginnen, sich zu fürchten. Die Grünen sind so stark geworden, wie die anderen früher waren; voran die Union, aber auch die SPD. Diskutieren können sie immer noch wie früher, aber heute sind sie disziplinierter denn je.

Entscheidung der Kanzlerkandidatur der Grünen – ein Fanal

Wie die Grünen-Spitze die Kanzlerkandidatur entschieden hat, war es ein Fanal. Und die Partei steht geschlossen dahinter, weil sie sich von ihrer Spitze nicht dazu gegängelt fühlt. So macht sie sich selbst zum Instrument: zum Machtinstrument. Ein Blick auf Union und SPD zeigt den auffälligen Unterschied.

[Mehr zum Thema: Tag der Erneuerbare Energien – „Die Sonne schickt uns keine Rechnung“ (T+)]. 

Dass Grüne nicht so gut regieren können wie die Vertreter dieser beiden, lautet ein maßgebliches Gegenargument der jüngsten Tage. Das ist nach langen Jahren mit Erfahrungen im Bund und in den Ländern aus Sicht der Bürger:innen offenkundig hinreichend widerlegt.

Und dass gutes Regieren allein nicht reicht, sondern nach den Jahren mit Merkel zunehmend auch Inspirieren bedeutet, erkennen die Laschets und Söders und Scholz‘ und Nowabos‘ längst auch. So gesehen ist die größte Gefahr für sie: Die Grünen sind in ihrer Mitte. Denn Grün hat viele Farben.

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