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Marianne Birthler und Charlotte Tjaben in der Gethsemanekirche.

© Schubert/Gotscheff

DDR-Opposition und Fridays for Future: „Plötzlich haben viele Respekt vor Halbwüchsigen“

Marianne Birthler und die Fridays-for-Future-Aktivistin Charlotte Tjaben über Ängste vor öffentlichen Reden und das Gemeinschaftsgefühl auf Demos. Ein Gespräch.

Am 4. November 1989 demonstrierten Hunderttausende DDR-Bürger*innen auf dem Alexanderplatz für Demokratie und Meinungsfreiheit. 30 Jahre später holte das Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen diese größte freie Demonstration der DDR zurück auf den Originalschauplatz, als „Theater der Revolution“, das den Aufbruch von damals mit heutigen Anliegen aktualisiert. Die 14-jährige Schülerin Charlotte Tjaben, die sich bei der Fridays for Future-Bewegung engagiert, trat dabei anstelle der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler auf, die vor 30 Jahren eine der Rednerinnen war. Beide trafen sich in der Gethsemanekirche, um über den Protest damals und heute zu sprechen. 

Charlotte Tjaben: Wie ist es damals dazu gekommen, dass du am 4. November 1989 auf der großen Demo auf dem Alexanderplatz eine Rede gehalten hast?

Marianne Birthler: In der Gethsemane-Kirchengemeinde gab es seit Anfang 1989 ein Kontakttelefon der Oppositionsgruppen. Das war so etwas wie eine alternative Nachrichtenzentrale. Zusammen mit anderen war ich für dieses Telefon verantwortlich. Wir sammelten dort Informationen und gaben sie an andere weiter – es gab ja noch kein Internet, auch keine Smartphones.

Viele Leute kannten die Nummer, und als es am 7. und 8. Oktober 1989 zu Gewalt gegen Demonstranten kam, riefen uns diejenigen an, die das beobachtet hatten. Sie berichteten von Misshandlungen und vielen Verhaftungen. Als tags darauf die ersten wieder frei waren, kamen sie zu uns und erzählten, wie übel ihnen mitgespielt wurde.

Daraufhin haben wir alle gebeten, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und zwar möglichst bald. Denn wenn du eine Geschichte fünf Mal erzählt und andere gehört hast, dann verändert sie sich. Schließlich hatten wir ungefähr 300 Berichte beisammen. In vielen davon war von zügelloser Gewalt die Rede, auch gegen Jugendliche.

„Sich treffen, das hat damals gut funktioniert“

Tjaben: Kann ich kurz eine Zwischenfrage stellen? Wie ist man denn an so eine Telefonnummer rangekommen?

Birthler: Die hat sich herumgesprochen. Es war erstaunlich, dass sich manche Nachrichten und Informationen auch ohne die Technik, die wir heute haben, sehr schnell verbreiten ließen. Da sich keiner darauf verlassen durfte, dass er die wichtigsten Neuigkeiten abends auf Twitter lesen wird, musste man mit anderen Menschen direkten Kontakt aufnehmen und sich treffen. Das hat damals gut funktioniert. Wir waren allerdings auch nicht so überflutet mit Informationen, wie wir das heute sind.

Die ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler in der Gethesemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg.

© Schubert/Gotscheff

Tjaben: Ja, das kann ich mir vorstellen. Und wie lief das dann ab mit deiner Rede?

Birthler: Nachdem wir mit den Berichten der Betroffenen an die Öffentlichkeit gegangen waren und bewiesen hatten, dass es sich um geplante und systematische staatliche Gewalt gehandelt hatte, baten mich die Theaterleute, die die Demonstration am 4. November planten, auf der Demo darüber zu berichten. Da ich überhaupt nicht gewöhnt war, vor vielen Leuten zu sprechen, hatte ich zunächst Hemmungen und hätte sehr gerne abgelehnt.

Doch sie ließen nicht locker, also sagte ich zu. Vorsichtshalber bin ich am 4. November schon eine Stunde früher auf den Alex gegangen, damit ich meine Angst verliere und ein Gefühl für die Atmosphäre bekomme. Das war gut, denn die Leute, die da allmählich den Platz füllten, haben mir sehr imponiert. Sie hatten so tolle Transparente! Im Stillen habe ich mich bei ihnen entschuldigt, denn ich hatte ihnen das gar nicht mehr zugetraut: So viel Mut und so viel Witz.

„In der Opposition gab es viele verschiedene Ansichten“

Tjaben: Wie hast du es damals geschafft, so viele Menschen von deiner Meinung zu überzeugen?

Birthler: Darum ging es gar nicht so sehr. Innerhalb der Opposition und erst recht auf der Demo am 4. November gab es viele verschiedene Ansichten. Wenn man die Demonstranten gefragt hätte, wie Deutschland oder Berlin in 20 Jahren aussehen soll, hätte es wahrscheinlich 50 verschiedene Antworten gegeben. Stattdessen wussten die meisten ganz genau, was sie nicht mehr wollten: die Gängelung und die Enge der Diktatur.

Wir wollten nicht mehr, dass in allen Zeitungen dasselbe steht. Wir wollten Freiheit – darin waren sich die meisten einig. Wie das dann wirtschaftlich oder politisch aussehen würde, darüber gab es noch wenig konkrete Vorstellungen. Wichtig war erst mal, die allgegenwärtige Macht der SED infrage zu stellen. Das hat den Menschen Energie und Mut gegeben. Du bist ja auch an Protesten beteiligt! Was hat dir den Anstoß dafür gegeben?

„Alle verfolgen das gleiche Ziel, auch wenn man verschieden ist“

Tjaben: Ich gehe oft zu Fridays for Future. Als ich das erste Mal da hingegangen bin, wusste ich noch gar nicht, was das genau ist. Aber meine Freundinnen und Freunde erklärten mir den Grund und fragten, ob ich mitkommen wollen würde. Als ich dann das erste Mal dort war, fand ich die Bewegung gleich total toll! Besonders die Atmosphäre! Alle verfolgen das gleiche Ziel, auch wenn man sich sonst gar nicht treffen würde und komplett verschieden ist. Daraufhin dachte ich, dass ich da jetzt öfter hingehen sollte. Das ist also durch meine Freundinnen und Freunde gekommen.

Birthler: Auf meinem Weg in die Politik haben meine Freunde auch eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben mich sehr beeinflusst. Meistens wird man zunächst irgendwie mitgenommen oder eifert jemandem nach. Bei politischen Aktivitäten sind Freunde und Verbündete extrem wichtig, gerade auch, wenn es Rückschläge gibt oder zwischendurch mal mühsam wird. Ich bewundere, was ihr bei Fridays for Future macht.

Man kann sehen, was die Demos für eine Wirkung haben. Plötzlich haben viele Respekt vor Halbwüchsigen und wollen sich vor ihnen nicht als Klimasünder blamieren. Und klar – sie wollen ja auch mal von euch gewählt werden, das gehört auch zur Wahrheit. Ich habe immer Angst, dass ihr irgendwann die Energie verliert, frustriert oder enttäuscht seid. Aber es sieht im Moment noch nicht danach aus.

„Wer in der DDR nur zu Hause saß, konnte depressiv werden“

Tjaben: Ich glaube, wir haben noch viel Hoffnung und das wird auch erst mal noch anhalten. Hast du erst durch die vielen Menschen auf dem Alexanderplatz am 4. November so viel Hoffnung geschöpft – oder kam die schon vorher aus dir selbst heraus?

Birthler: Beides. Dass Menschen sich treffen und zusammen etwas machen, soll ja auch Hoffnung erzeugen, so ging es auch mir. Wenn man heute die Nachrichten liest, kann man oft genug eher deprimiert sein als hoffnungsvoll. Dagegen kann man nur etwas machen, wenn man sich mit anderen verständigt und trifft, die ähnlich denken, wenn man sich gegenseitig Mut macht und gemeinsam erfährt, dass sich etwas verändern kann. Das war damals nicht anders. Wer in der DDR einfach nur zu Hause gesessen hat, konnte depressiv werden, und das sind viele auch geworden. Erst wenn man rausging und Kontakt suchte, hatte man die Chance, Hoffnung zu entwickeln.

Deswegen waren die Kirchen, also die einzigen Räume, in denen man sich legal versammeln konnte, auch immer so voll. Viele, wahrscheinlich die meisten, waren gar keine Christen, sie brauchten aber Ermutigung und Gespräche. Sie gingen rein, haben sich umgeschaut und kamen mit Leuten ins Gespräch. Plötzlich fühlten sie sich nicht mehr allein.

Dieses Gefühl hatte ich auch auf dem Alex, als ich da hochkletterte und auf die Menschen auf dem Platz sah. Alle sahen so schön aus, schöner als im Alltag auf der Straße. Weil Menschen, die Hoffnung haben oder die ihre Angst überwinden konnten, irgendwie strahlen. Das siehst du ja auch, wenn du auf deiner Demo bist, obwohl es um ein sehr schwieriges und bedrohliches Thema geht. Aber da ist das Gefühl: Ich tue was und ich tue es nicht allein! Das ist ganz gut vergleichbar, glaube ich.

Die Fridays-for-Future-Aktivistin Charlotte Tjaben in der Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg.

© Schubert/Gotscheff

Tjaben: Du hast gerade das Thema „Angst“ angesprochen. Greta Thunberg möchte, dass die Leute in Angst und Panik versetzt werden. Das ist ihr Ziel, damit die Leute aus der Angst und der Panik heraus handeln.

Birthler: Ich schätze Greta Thunberg sehr, aber ich glaube, Panik ist nicht konstruktiv. Ängste sind berechtigt und notwendig, weil sie uns in Bewegung setzen. Aber Angst kann auch lähmen. Und in Panik erstarrt man und macht das Falsche oder gar nichts mehr. Sorge und produktive Angst finde ich gut – und so verstehe ich Greta Thunberg eigentlich auch. Ein unglaublich wichtiger Schritt ist, die Angst zu überwinden und aus dem privaten, persönlichen Bereich heraus in die Öffentlichkeit zu gehen. Sonst passiert gar nichts.

„Ich hatte Angst vor den Konsequenzen in der Schule“

Tjaben: Ich weiß dazu auch noch, dass ich ziemliche Angst hatte, nachdem ich zum ersten Mal zu Fridays for Future gegangen bin. Ich hatte Angst vor den Konsequenzen in der Schule am Montag danach.

Birthler: Es wird ja viel debattiert, ob der Schulstreik, manche nennen es Schwänzen, eine gute Idee ist. Aber das gehört ja auch zu den wichtigen Erfahrungen: mal zu riskieren, dass irgendwer die Augenbrauen hochzieht, dass das eigene Handeln auch unangenehme Konsequenzen hat. Und dann gehört es auch dazu, mit den Eltern zu sprechen, die nicht damit einverstanden sind, dass ihr zu den Streiks geht und ihnen zu schildern, warum eure Teilnahme von großer Bedeutung ist. Ich denke, diese Erfahrungen sind wichtig. Daran, dass du deine Angst überwunden hast, kannst du dich bestimmt noch in 30 Jahren erinnern. Und das ist sehr wichtig.

„Ihr habt schon eine Menge verändert“

Tjaben: Ich stelle mir häufig die Frage, was wir brauchen, um wirkliche Veränderungen in der Politik zu erzielen.

Birthler: Ihr habt ja schon eine Menge verändert. Es geht heute nicht um eine Revolution oder darum, dass wir völlig andere politische Machtverhältnisse erstreiten. Das würde ich sogar eher skeptisch sehen, wenn man sich vorstellt, wer da an die Macht kommen könnte. Sondern es geht darum, dass die, die Verantwortung haben, ihr Handeln verändern.

Tjaben: Würdest du, die du nicht mehr zur Schule gehst, auch mal zu einer FFF-Demo gehen?

Birthler: Ja, würde ich machen. Ich habe aber das Gefühl, dass es nicht gut ist, wenn auf euren Demos mehr Erwachsene und Alte sind als Jugendliche. Deswegen bin ich bislang noch nicht auf die Idee gekommen. Würdest du dir denn wünschen, dass viele kommen aus der Eltern- und Großelterngeneration?

Tjaben: Ich fände das wichtig, wenn sie auch zeigen würden, dass sie es richtig finden.

Birthler: Würde euch das stärken?

Tjaben: Ja, ich bin der Meinung, dass es uns stärken würde.

Birthler: Verstehe ich. Und merke ich mir.

Anna Thewalt, Joana Nietfeld

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