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Ein bayerisches Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife.

© dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Pflicht-Zeugnisvermerke für Legastheniker: Wer Schutz im Abi will, muss seine Schwäche zeigen

Ein Hinweis auf Nichtbenotung diskriminiert nicht und kann sogar geboten sein, urteilt das Verfassungsgericht – und betont den Wert der Rechtschreibung trotz Korrekturprogramm.

„Notenschutz“ heißt es in der Pädagogensprache, wenn Lernbehinderte in den Schulen bei der Notengebung formale Rücksicht auf ihre Schwäche einfordern. Wie drei frühere Abiturienten aus Bayern wegen ihrer Legasthenie. „Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet“, heißt es deshalb auf den – guten bis sehr guten – Zeugnissen ihrer Hochschulreife.

Ein vorgeschriebener amtlicher Vermerk, den die drei tilgen lassen wollten. Er benachteilige sie bei der Jobsuche. Deshalb zogen sie bis vor das Bundesverfassungsgericht. Das entschied nun, dass der Vermerk gegen das Grundgesetz verstößt – aber nur in diesen konkreten Fällen, denn diese beruhten auf einer „diskriminierenden Verwaltungspraxis“.

Zugleich urteilte der Erste Senat von Gerichtspräsident Stephan Harbarth, dass solche amtlichen Bemerkungen verfassungsrechtlich im Prinzip sogar geboten sein können.

Werden prüfungsrelevante Teilleistungen nicht bewertet, ist die Anbringung von dies offenlegenden Zeugnisvermerken grundsätzlich gerechtfertigt.

Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Legasthenie beruhe auf einer meist lebenslangen medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung, die die intellektuellen Fähigkeiten allerdings nicht berühre, erläuterte Harbarth bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Betroffen sind nach Schätzungen von Experten zwei bis vier Prozent der Schüler. Mit der Legasthenie seien „gewichtige Einschränkungen der individuellen und selbstbestimmten Lebensführung Betroffener verbunden“.

An der Aussagekraft des Abiturs besteht ein öffentliches Interesse, so die Richter

Der Vermerk sei so, wie er 2010 auf die Zeugnisse der drei Kläger kam, ein Verstoß gegen das in Artikel 3 des Grundgesetzes enthaltene Verbot, Menschen wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen. Grund dafür sei, dass er nur bei den Rechtschreibleistungen legasthener Schülerinnen und Schüler hinzugefügt wurde, nicht jedoch, wenn Teilleistungen wegen anderer Behinderungen nicht bewertet wurden.

Auch gegenüber einer weiteren Vergleichsgruppe sei die Regelung diskriminierend gewesen. Denn etwa in naturwissenschaftlichen Fächern hätten Lehrer kraft ihres Ermessens ebenso davon absehen können, die Rechtschreibung zu bewerten. Auch dies sei im Zeugnis dann nicht erfasst worden.

Keine verbotene Diskriminierung sehen die Richter dagegen gegenüber den anderen Schülern, die ihre Rechtschreibung bewerten lassen und entsprechend ohne Vermerk auf dem Abi-Zeugnis ins Leben gehen. „Die Benachteiligung der Beschwerdeführer gegenüber dieser Vergleichsgruppe ist grundsätzlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt“, sagte Harbarth.

Dies begründete das Gericht mit dem Hinweis auf die Qualität des Abiturs als einheitlichem Ausweis für schulische Leistungen und einer Interessenabwägung.

Dem in der Verfassung vorgegebenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden, werde der Gesetzgeber „in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen“.

Transparente Notengebung für Chancengleichheit und Vergleichbarkeit

Unterschiedliche Leistungen würden durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert. So erwecke das Abi-Zeugnis den Anschein, dass sich alle Prüfungsteilnehmer der Bewertung sämtlicher Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen mussten – auch der Rechtschreibung, die Bestandteil der durch das Zeugnis dokumentierten Qualifikation sei.

„Die Offenlegung der im Einzelfall tatsächlich nicht erbrachten Leistungen erhöht Aussagekraft und Vergleichbarkeit der Zeugnisse“, so Harbarth. Daran bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse. Die Vermerke könnten daher unter dem Aspekt der Chancengleichheit geboten sein.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Josef Christ, Stephan Harbarth, Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts, Yvonne Ott und Ines Härtel am Mittwoch bei der Urteilsverkündung.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Josef Christ, Stephan Harbarth, Vorsitzender des Senats und Präsident des Gerichts, Yvonne Ott und Ines Härtel am Mittwoch bei der Urteilsverkündung.

© dpa/Uli Deck

Mit dem Urteil werden vorangegangene Urteile des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben, mit denen die Vermerke in allen drei Fällen als gerechtfertigt angesehen wurden. Es gilt damit ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, wonach die Vermerke abzuändern beziehungsweise zu streichen sind.

In ihrer eigenen Sache waren die drei Kläger damit erfolgreich. Im Ergebnis muss aber darauf geachtet werden, dass Notenschutz bei Behinderungen im Abschlusszeugnis transparent wird – und zwar nicht nur bei Legasthenie. In Bayern wurden die Vorschriften dazu bereits vor längerer Zeit angepasst.

Das Urteil betont den Wert des Abiturs für einen chancengleichen Zugang insbesondere zu Studiengängen, für die die Note entscheidend sein kann. Daneben unterstreicht es die „besondere Bedeutung“, die der Beherrschung der Rechtschreibregeln nach wie vor und trotz Rechtschreibprogrammen zukomme. Nicht nur gehe es darum, „störungsfrei kommunizieren“ zu können. Rechtschreibung werde „allgemein als Indikator für die individuelle Schreib- und Sprachfähigkeit angesehen“.

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