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Noch ist er ein Grüner: Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer.

© IMAGO/ULMER Pressebildagentur

Umstrittener Oberbürgermeister von Tübingen: Palmers Ausschlussverfahren hat Sprengkraft für die Grünen

Am Samstag verhandeln die Grünen über den Parteiausschluss von Boris Palmer. Der eigentliche Streitpunkt scheint nur noch ein Nebenaspekt zu sein.

Die Landesgeschäftsstelle der Grünen in Baden-Württemberg liegt unscheinbar am Ende der Königstraße. Die zieht sich durch das Herz von Stuttgart vorbei an Shoppingketten, dem Schloss bis zur großen Baugrube, wo seit zwölf Jahren am neuen Bahnhof gearbeitet wird. Der war so umstritten , dass er die Grünen 2011 nach 58 Jahren Dauerherrschaft der CDU im Ländle überraschend an die Macht spülte.

Es war eine historische Wahl, für deren Ausgang auch Boris Palmer mitverantwortlich war. Der damals 38-jährige Oberbürgermeister von Tübingen führte für seine Partei die Schlichtungsgespräche bei Stuttgart 21. Die neunstündigen Verhandlungen wurden zum medialen Ereignis.

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Hundertausende verfolgten sie im Livestream, der TV-Sender Phoenix freute sich über die zweitbeste Einschaltquote in seiner Geschichte. Palmer wusste die Öffentlichkeit zu nutzen. Rhetorisch trat er so überzeugend auf, dass ihm der Bahn-Vertreter am Ende öffentlich ein Jobangebot unterbreitete. Zwölf Jahre später ist am anderen Ende der Königstraße alles anders. An diesem Sonnabend wird Boris Palmer hier wieder einen großen Auftritt haben, aber dieses Mal geht es um seinen Ausschluss von den Grünen.

Rezzo Schlauch, selbst Grüner und früherer Parlamentarischer Staatsekretär, vertritt Palmer als Anwalt. Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten, Schlauch hat bereits Palmers Vater juristisch vertreten. Er sieht in dem Verfahren einen Vorgang, der die ganze Partei betrifft.

„Wir haben es mit einem Generationenkonflikt zu tun. Man will nicht mehr vom Mainstream abrücken, wünscht sich glatte Amtsträger und hat Angst vor kontroversen Diskussionen“, sagt er am Telefon und klingt erbost. Schlauch, der ein 55-seitiges Verteidigungsschreiben formuliert hat, glaubt nicht, dass Palmer parteischädigendes Verhalten nachgewiesen werden kann.

Der Auslöser für den Streit mit dem Landesvorstand ist schnell erzählt. In einem Facebook-Post im Mai 2021 bezeichnete Palmer den schwarzen Ex-Fußballer Dennis Aogo als „schlimmer Rassist“, der seinen „N****schwanz“ Frauen angeboten habe. Rassismus warfen die Grünen Palmer vor. Sie beschlossen auf einem Landesparteitag nur einen Tag später, das Ausschlussverfahren. Palmer hatte noch versucht, sich zu verteidigen und von Ironie gesprochen. Seine Wortwahl bedauerte er, eine Entschuldigung kam nicht.

Die eigentliche Auseinandersetzung zwischen Palmer und Teilen der Partei schwellt seit Jahren. Zum Tübinger Oberbürgermeister will sich in der Partei kaum noch jemand öffentlich äußern. „Boris lebt von Aufmerksamkeitsökonomie. Er provoziert häufig, beharrt auf seinen Aussagen und ist nicht bereit, sich zu entschuldigen und eigene Verantwortung für die Auswirkungen zu übernehmen. Ein solches Verhalten ist dann auch parteischädigend.“, sagt ein Grüner-Bundestagsabgeordneter, der ihn schon lange kennt.

Mehr als 500 Grüne unterstützen Palmer öffentlich

Im Bundesvorstand hält man sich bedeckt, verweist auf die Zuständigkeit des Schiedsgerichts. Auch in der Stuttgarter Landeszentrale, wo seit Dezember ein neues Vorsitzenden-Duo sitzt, bleibt man still. Die Angelegenheit hat Sprengkraft.

Selbst viele Palmer-Gegner schätzen die Chancen für einen Ausschluss gering ein. Mehr als 500 Grüne, einige prominent, haben ein Unterstützungsschreiben für Palmer unterzeichnet. Sie distanzieren sich von Palmers Wortwahl, finden aber, man müsse seine Provokationen aushalten.

Die 33-seitige Anklageschrift gegen Palmer zählt eine ganze Reihe von Provokationen und verbalen Entgleisungen rund um das Thema Migration und Identitätspolitik auf. „Wenn man die Vorwürfe im Einzelnen durchgeht, ist fast alles zu 100 Prozent Grüne-Regierungsarbeit in Bund und Ländern“, sagt Schlauch.

Palmer wird unter anderem vorgeworfen, dass er Obergrenzen für Geflüchtete und Abschiebungen nach Afghanistan forderte, man die EU-Grenzen notfalls bewaffnet schützen müsse und nicht genug Platz für alle sei. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien heiße das „Rückführungsoffensive“, in den grün regierten Ländern Baden-Württemberg und Hessen habe man damals nach Afghanistan abgeschoben, sagt Schlauch.

Freund und Anwalt von Palmer: Rezzo Schlauch

© Foto: dpa/Christoph Schmidt

Der Anwalt des Landesvorstandes, Sebastian Roßner, hält nicht nur die Aussagen für parteischädigend. „Schweren Schaden kann die Partei auch nehmen, wenn sie durch die Äußerungen im inneren zerstritten ist“, sagt der Frankfurter Anwalt, der sich auf Parteienrecht spezialisiert hat und schon in einem Dutzend Ausschlussverfahren mitgewirkt hat.

Roßner will aber auch einen aktuellen Vorwurf einbringen. „Dass Herr Palmer nun auf eigene Faust in Tübingen gegen eine Grünen-Bewerberin für das Amt des Oberbürgermeisters kandidiert, wird sicherlich ein Thema für das Schiedsgericht.“

Tatsächlich hat Palmer angekündigt, ohne die Unterstützung seiner Partei erneut für seinen Job im Rathaus zu kandidieren. An der Aufstellung der Grünen-Kandidatin, bei der Kreisrätin Ulrike Baumgärtner ohne Gegenkandidaten nur 55 Prozent Zustimmung erhielt, nahm er nicht teil. Schlauch hält es für einen Skandal, dass dies nun gegen Palmer ausgelegt wird. „Es wurde getäuscht, getrickst und verschleppt, um das Verfahren möglichst in die Nominierungsphase für die OB-Wahl zu ziehen“, ist Schlauch sicher.

Roßner weißt den Vorwurf vehement von sich. „Von Seite meiner Mandanten ist sicher nichts verschleppt worden“, sagt er. Zwar sei ein so langes Verfahren ungewöhnlich, Grund für die Verzögerung sei aber die Auflösung des Kreisschiedsgerichts in Tübingen gewesen. Es wird wohl auch ein Duell der Anwälte in der Landesgeschäftsstelle in der Stuttgarter Königstraße.

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