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Ein syrischer Flüchtling steht in einem Lager nahe der irakischen Stadt Erbil.

© Moe Zoyari/Redux/laif

Neuer Kurs: Wie die EU ihre Flüchtlingspolitik vereinheitlichen will

Der Wunsch der EU-Staaten, Flüchtende und andere Migranten möglichst von Europa fernzuhalten, bringt eine Vielzahl von Vorschlägen hervor. Die EU will zentralisieren. Das ist politisch und rechtlich schwierig.

"Ankerzentren“, „Ausschiffungsplattformen“, Zurückweisung an den nationalen Grenzen, bilaterale Abkommen mit EU-Nachbarstaaten – der Wunsch der europäischen Regierungen, Flüchtende und andere Migranten möglichst von Europa fernzuhalten, hat einen Strauß von Vorschlägen produziert. Nicht alle sind neu. Einiges davon hat der EU-Gipfel in dieser Woche beschlossen.

Abweisung an nationalen Grenzen

Recht vage blieb die Gipfelerklärung in der Frage, um die sich die politische Debatte in Deutschland in den vergangenen Wochen vor allem drehte: die Zurückweisung von Migranten an der nationalen Grenze, die sogenannte Sekundärmigration verhindern soll – also das Weiterwandern von Menschen, die bereits in einem EU-Land registriert sind.

Das hat auch mit der Rechtslage zu tun: „Ein Ausländer, der unerlaubt einreisen will, wird an der Grenze zurückgewiesen“, steht etwa im Paragrafen 15 des deutschen Aufenthaltsgesetzes. In Deutschland Schutz zu suchen, ist aber keine unerlaubte Einreise. Insofern ist auch die Rede von „illegalen Migranten“ falsch, wenn damit lediglich gemeint ist, dass sie keine Papiere haben. Wer Asyl begehrt, muss – und kann auch in den allermeisten Fällen – kein Visum dabei haben und hat dann ein Anrecht darauf, dass geprüft wird, ob er oder sie wirklich Schutz braucht.

Abschiebung in sichere Staaten

Zudem geht europäisches Recht nationalem vor. Das hat 1993 die Wirkung der heftig umkämpften Grundgesetzänderung eingeschränkt – seither sollte nicht mehr Asyl erhalten, wer über sichere Transitstaaten nach Deutschland kam. Die Genfer Flüchtlingskonvention, die die EU in ihre Grundrechtecharta übernommen hat, schützt aber Verfolgte davor, in Staaten zurückgeschickt zu werden, in denen sie verfolgt oder in Lebensgefahr wären. Und sie müssen die Möglichkeit haben, sich vor Gericht zu wehren, wenn ihr Antrag auf Schutz – Asyl ist nur eine Art von Schutz – abgelehnt oder eingeschränkt gewährt wird oder sie dort unmenschlich behandelt würden.

Das ist nicht einmal in allen EU-Staaten sicher. Auch dorthin ist Abschiebung nicht automatisch zulässig – bilaterale Abkommen etwa zwischen Berlin und Athen, Berlin und Sofia oder Berlin und Rom, würden daran nichts ändern. Der Verweis darauf, dass Frankreich schon lange Menschen nach Italien zurückschiebe, liefert eher ein problematisches Beispiel.

Die nationale französische Menschenrechtskommission CNCDH weist in ihrem neuesten Bericht darauf hin, dass dies unter Verletzung geltenden Rechts geschehe. Frankreich hat demnach bisher auch nicht einen einzigen Asylantrag an den Grenzstationen im Departement Alpes-Maritimes registriert, also offensichtlich auch gar nicht erst wie vorgeschrieben geprüft. Die Verhältnisse bei Ventimiglia und Menton sowie an den übrigen Grenzstationen zwischen Frankreich und Italien sind also ein Hinweis, dass Einreiseverweigerung schon an der Grenze praktisch kaum umsetzbar ist – jedenfalls nicht im Rahmen geltenden Rechts.

Europäische Asylzentren

Statt nationalen Kleinkleins könnten sich die EU-Staaten zusammentun und über alle, die kommen, in großen europäischen Asylzentren gemeinsam entscheiden. Die Vorteile: Diese Zentren ließen sich personell gut ausstatten, mit einem vielsprachigen Mitarbeiterstab, Dolmetschern und gemeinsamen, einheitlichen Standards. Mängel und Unterschiede in der Unterbringung und bei den Asylverfahren waren immer wieder ein Grund etwa für deutsche Gerichte, die Rückschiebung von Asylbewerbern zu verbieten. Auch Personalengpässe verhinderten, dass Menschen nach den Dublin-Asylregeln innerhalb von sechs Monaten in den EU-Staat ihrer Ankunft zurückgeschickt werden konnten.

In großen Zentren wäre auch eine unabhängige Rechtsberatung und Begleitung durch Anwältinnen möglich, die die Asylsuchenden über ihre Rechte, Möglichkeiten und Aussichten aufklären. Die Schweiz und die Niederlande haben mit rechtzeitiger und unparteiischer Beratung gute Erfahrungen gemacht – eine Studie des „Sachverständigenrats für Integration und Migration“ (SVR) hat das gerade bestätigt.

So wurden Verfahren beschleunigt und Prozesse gegen Asylentscheidungen vermieden. Asylsuchende hingen nicht über Monate bis Jahre lang in der Warteschleife, auch eine „Verfestigung des Aufenthalts“ würde vermieden, jene gefürchtete Integration im Aufnahmeland – etwa durch Kinder in Ausbildung – die es schwer macht, die wieder zurückzuschicken, denen Europa kein Recht auf Schutz zuerkennt.

Migranten aus Bangladesch sitzen in einem Schlauchboot auf die türkische Küste zu.
Migranten aus Bangladesch sitzen in einem Schlauchboot auf die türkische Küste zu.

© Santi Palacios/dpa

„Ein gemeinsamer Standard, eine gemeinsame EU-Behörde, das würde das Niveau der Entscheidungen womöglich heben, dagegen spricht erst einmal gar nichts“, sagt dazu die Asylrechtsexpertin Nora Markard. Die Juniorprofessorin für Öffentliches und Völkerrecht an der Universität Hamburg sieht allerdings Umsetzungsprobleme. Sollten, wie für die geplanten deutschen Ankerzentren vorgesehen, Richterinnen und Richter dort mitarbeiten, rechnet Markard mit Widerstand: „Eine unabhängige Justiz goutiert es gar nicht, allzu eng mit den Behörden Hand in Hand zu arbeiten.“

Ein Großzentrum irgendwo am Rande Europas, aus dem die Menschen nicht weg- und Kinder nicht in die Schule können, „das wäre faktisch ein Gefängnis“. Verfahren tatsächlich schnell abzuwickeln, „das funktioniert nicht für alle“, sagt Markard. Zentral organisierte Verfahren müssten aus ihrer Sicht eigentlich auch bedeuten, dass im grenzenlosen Schengenraum der EU die Grenzen auf Dauer wieder geschlossen würden – um sicherzugehen, dass niemand sich in einen anderen Mitgliedsstaat durchschlägt und dort ein Verfahren beantragt. „Ein Rückfall in die 1980er Jahre“ wäre das, sagt Markard. Er würde auch Europas Wirtschaft hart treffen.

Nationale Asylzentren

Der EU-Gipfel in Brüssel hat einen Schritt Richtung Zentralisierung getan, allerdings wieder im nationalen Rahmen: Aus dem Mittelmeer gerettete Migranten sollen in „kontrollierte Zentren“ gebracht werden können, die einzelne willige EU-Staaten einrichten. Von dort könnten sie verteilt werden, sofern sie schutzberechtigt sind – aber wieder nur an Staaten, die sie aufnehmen wollen.

Damit stellt sich wieder die Frage, auf die Europa bisher keine Antwort hat: Wohin mit den Menschen, die das Verfahren bestanden haben und die bleiben dürfen? Die solidarische Verteilung in Europa ist in den letzten Jahren stets gescheitert.

Die im deutschen Koalitionsvertrag vereinbarten Ankerzentren („Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) sind als Antwort auf diese europäischen Fragen schon gar nicht gedacht, sie sollen die Verfahren – und möglichst die Abschiebung – derer beschleunigen, die es nach Deutschland geschafft haben.

In zentralen Erstaufnahme-Einrichtungen sollen diese Menschen so lange bleiben, bis ihr Verfahren abgeschlossen ist, längstens ein Jahr lang. Sollten sie danach abgeschoben werden können, hätte die Polizei direkt Zugriff auf sie. Geplant ist, neben Vertretern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und Ausländerbehörden, Ärzten und Polizei dort auch die Anwesenheit von Richtern.

Internationale Unterstützung

Auch die UN-Flüchtlingshilfsorganisation hält den Ansatz, die Verfahren zu bündeln, für grundsätzlich positiv, wie der deutsche UNHCR-Vertreter Dominik Bartsch dem Tagesspiegel sagte. Er warnte aber vor der Kasernierung von bis zu 1500 Menschen, womöglich weitab von Wohngebieten: Das provoziere Konflikte und wäre auch „ein fatales Signal“ an die einheimische Bevölkerung, der man so signalisiere, dass die Menschen eigentlich kein Recht hätten, unter ihnen zu leben.

Alle genannten Schwierigkeiten der rechtsstaatlichen Organisation haben erst recht die jetzt in Brüssel beschlossenen Aufnahmezentren, die Europa in Drittstaaten außerhalb der EU einrichten will. Hinzu kommt die Frage: Wo sollen sie entstehen? Auch in diesen „regionalen Ausschiffungsplattformen sollen Schutzsuchende angehört und über ihre Anliegen entschieden werden. Die EU setzt dafür auf Mithilfe der internationalen Migrationsorganisation IOM und des UNHCR.

Bisher hat sich keines der in Frage kommenden nordafrikanischen Länder bereit erklärt, selbst Albanien als EU-Beitrittskandidat ließ sich durch die Aussicht auf mehr Brüsseler Unterstützung nicht locken. Auch hier ist die Frage offen, was mit den Menschen geschieht, die das Recht auf Schutz in Europa hätten – und was mit den anderen? Bleiben sie auf dem (afrikanischen) Territorium, auf dem das EU-Zentrum steht, werden sie in Heimat- oder andere Länder abgeschoben, wo sie womöglich erneut verfolgt werden? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 2012 in einem Urteil fest, dass sich die EU ihren Menschenrechtspflichten nicht durch Outsourcing entziehen kann: Auch ein EU-Asylzentrum in Tunesien hat sich an europäisches Recht zu halten.

Europäische Grenzsicherung

Allein die EU-Grenzschützer von Frontex konnten ihren Haushalt in den 14 Jahren ihres Bestehens verfünfzigfachen. Die Beschlüsse des Gipfels zur Grenzsicherung sind schnell umsetzbar und sehr konkret: Frontex sollen mehr Rechte und viel mehr Geld bekommen. Schon vor zwei Wochen hatte die Europäische Kommission eine Verzehnfachung ihres Personalbestands und dreimal höhere Ausgaben für Grenzsicherung vor geschlagen – statt bisher 13 Milliarden Euro fast 35 Milliarden ab 2021.

Das dürfte jetzt schneller gehen, wobei die Zustimmung der EU-Staaten als sicher gelten kann. Gleichzeitig verschärft die EU ihren Ton gegen NGOs weiter, die im Mittelmeer Flüchtlinge aufnehmen: Sie dürften, warnt das Brüsseler Papier, „die Einsätze der libyschen Küstenwache nicht stören“.

Internationales Recht

Der Völker- und Europarechtler Daniel Thym aus Konstanz, der auch Mitglied des Sachverständigenrats SVR ist, weist aber darauf hin, dass die strengen EU-Menschenrechtsstandards außerhalb des EU-Gebiets so streng nicht mehr wären: „Es ist wohl kein Zufall, dass im Gipfelpapier keine Rede mehr von Seenotrettung durch Frontex- oder andere Schiffe von EU-Küstenwachen die Rede ist. Auf diesen Schiffen wären Schiffbrüchige unter EU-Hoheit und könnten nicht ohne weiteres in Afrika an Land gebracht werden.“

Flüchtlinge werden an Bord eines Seenot-Rettungsschiffes versorgt.
Flüchtlinge werden an Bord eines Seenot-Rettungsschiffes versorgt.

© Sos Mediterranee/dpa

Ihrem Ziel, die Fluchtmigration nach Europa deutlich zu verringern, könnten Europas Regierungen in Brüssel so tatsächlich näher gekommen sein. „Ob man das politisch und moralisch will, kann man unterschiedlich beurteilen, rechtlich jedenfalls sind solche außereuropäischen Zentren möglich“, sagte Thym dem Tagesspiegel. „Ob es sie gibt, wird von kooperativen Drittstaaten abhängen, aber auch davon, ob Europa genügend Resettlement-Plätze anbietet.“

Für Resettlement, die dauerhafte Umsiedlung in sichere Länder der ersten Welt, wählt der UNHCR Geflüchtete aus. Die Hilfe der UN-Organisation will die EU auch für ihre geplanten Zentren. „Eine Lösung nach Art Australiens, das Geflüchtete jahrelang auf Inseln interniert, hat die EU nicht beschlossen und UNHCR würde dazu auch nie die Hand reichen“, sagt Thym.

Sollte Europa die vielen rechtlichen Kniffligkeiten der Abwehr von Migranten allzu robust und ohne Rücksicht auf die Menschenrechte lösen, fürchtet Nora Markard Folgen auch für die eigenen Bürger: „Das wird zu einer Erosion und Delegitimation des Rechtsstaats auch nach innen führen“, sagt die Juristin. „Dieses ,Wir machen einfach mal, Hauptsache weit weg’, wie in Australien, das führt auch zu einer Brutalisierung der Gesellschaft.“

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