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Wie lang laufen sie noch?

© imago/blickwinkel

Neue Prüfung des Stromnetzes: Die Tür für Atomkraft öffnet sich wieder einen Spalt

Lange weigerten sich die Grünen beharrlich, nochmal über längere AKW-Laufzeiten zu verhandeln. Nun könnte zumindest ein Streckbetrieb möglich werden.

Es könnte der erste Schritt für einen Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus sein: Nach wochenlangem Druck angesichts der Energiekrise hat das Bundeswirtschaftsministerium einen weiteren Belastungstest für das deutsche Stromnetz in Auftrag gegeben. Das sagte eine Sprecherin von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Montag in Berlin. „Auf der Basis dieser Ergebnisse wird dann entschieden, was zu tun ist“, sagte sie zu etwaigen Laufzeitverlängerungen.

Bereits im März, kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, hatten Wirtschafts- und Umweltministerium einen sogenannten Stresstest in Auftrag gegeben. In dem Prüfvermerk war eingeräumt worden, dass die letzten drei deutschen Atomkraftwerke bei gedrosselter Leistung im Sommer mit denselben Brennstäben ein paar Monate länger am Netz bleiben könnten. Weil dadurch kein zusätzlicher Strom erzeugt werde, hohe Kosten entstünden und Sicherheitsprüfungen lange aufgeschoben seien, lehnten Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) einen Streckbetrieb in den Frühling lange ab.

Nun soll erneut geprüft werden, da neben den Gas- auch die Strompreise steigen. „Wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann auf der Basis von klaren Fakten“, sagte die Sprecherin. Offenbar wird geprüft, wie sich ein kompletter Ausfall russischer Gas-Lieferungen sowie Probleme mit französischen Atomstromexporten auswirken könnten.

Schon zuvor habe man nicht ideologisch gehandelt, betonte die Sprecherin. Die Ergebnisse würden in einigen Wochen vorliegen. In Deutschland sind nur noch die drei Atomkraftwerke Isar II, Neckarwestheim II und Emsland in Betrieb. Sie produzieren rund sechs Prozent des deutschen Stroms.

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„Das stellt Deutschlands Weg des Atomausstiegs nicht infrage“, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann der Deutschen Presseagentur. Es gebe einen gesellschaftlichen Konsens für einen Ausstieg. „Mit Atomstrom einen Gasmangel beheben zu wollen, das ist und bleibt eine Scheindebatte“, sagte Haßelmann. Einem möglichen Streckbetrieb erteilte sie dagegen keine eindeutige Absage.

Ricarda Lang schließt einen Streckbetrieb nicht kategorisch aus.
Ricarda Lang schließt einen Streckbetrieb nicht kategorisch aus.

© IMAGO/Jürgen Heinrich

Einen politischen Kuhhandel - Verlängerung der Akw-Laufzeiten für ein Tempolimit - wie ihn der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Gespräch gebracht hatte, lehnen die Grünen strikt ab. „Laufzeitverlängerungen sind bei einer Gasmangellage nicht sinnvoll und eine Hochrisikotechnologie ist keine parteitaktische Verschiebemasse“, schrieb Grünen-Chefin Ricarda Lang bei Twitter. Der Vorschlag zeige, dass die Union bei dem Thema unernst sei.

Höherer Strombedarf wegen mehr Heizlüftern?

Der energiepolitische Sprecher der FDP, Michael Kruse, begrüßte den Stresstest als „notwendig, um die Gefahren der Versorgung im Vorhinein realistisch zu bewerten und noch rechtzeitig reagieren zu können.“ Demnach müsste unter anderem geprüft werden, wie sich die gesteigerte Stromnachfrage durch den privaten Einsatz von Heizlüftern in den Wintermonaten auswirke. „Mit dem befristeten Weiterbetrieb der laufenden Kernkraftwerke können wir uns zusätzlich für den kommenden Winter wappnen und aktiv einer Strommangellage entgegenarbeiten“, sagte Kruse dem Tagesspiegel.

Derweil bereitet sich die Bundesregierung offenbar auf weiter ausbleibende Gaslieferungen aus Russland vor. Am Donnerstag sollen eigentlich die Reparaturarbeiten an der Pipeline Nord Stream I abgeschlossen sein. Doch im Kanzleramt plant man für den Fall, dass die Leitungen weiter leer bleiben.

In diesem Fall will sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Länderchefs zu einer außerordentlichen Ministerpräsidentenkonferenz treffen. Das erfuhr der Tagesspiegel aus mehreren Staatskanzleien. Einen solchen Gas-Gipfel hatte zuvor auch Berlins Regierende Franziska Giffey (SPD) gefordert.

Wird die finale Stufe im Notfallplan Gas aktiviert?

Offenbar rechnet die Regierung mit regionalen Gas-Notlagen. Sollten Gaslieferungen aus Russland ausbleiben, könnte die Regierung die dritte und finale Stufe im Notfallplan Gas aktivieren. Dann könnte die Bundesnetzagentur beginnen, Gas zu rationieren, um es für den Winter einzuspeichern. Seit einer Woche stagnieren die Füllstände der deutschen Gasspeicher und liegen konstant bei etwas mehr als 64 Prozent.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) verlangt, die Versorgung mit Erdgas für den Fall eines Mangels neu zu regeln. „Die aktuellen Priorisierungsregeln in einer Gasmangellage wurden für eine kurzfristige Unterbrechung einzelner Leitungen geschaffen“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm.

„Für die harte neue Energie-Realität muss die Politik in Berlin und Brüssel eine neue Regelung schaffen. Diese hat alle Teile der Gesellschaft entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit in die Pflicht zu nehmen.“ Russwurm erwartet, dass auf Deutschland „ein langfristig andauernder Gasmangel“ zukommt.

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