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In Städten wie Duisburg nahmen Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan am Sonntag an Autokorsos auf.

© dpa/Christoph Reichwein

Wenn der Jubel die Politik verstört: Wie umgehen mit den Erdogan-Anhängern unter den Türken in Deutschland?

Diskriminierung kann die Ursache dafür sein, dass Türken in Deutschland Erdogan unterstützen. Aus Sicht von Experten kommt aber noch mehr hinzu.

Auch bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat unter den Wahlberechtigten in Deutschland ein überdurchschnittlicher Anteil für den Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gestimmt. Damit stellt sich die Frage: Entscheiden sich viele Türkinnen und Türken in Deutschland gewissermaßen aus Trotz für den Autokraten am Bosporus, weil ihre Integration hierzulande gescheitert ist?

Zwar wies etwa die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler unmittelbar nach der Wahl darauf hin, dass Erdogan die Wahl auch ohne Zutun der Wahlberechtigten in Deutschland gewonnen hätte. Güler, die als Kind türkischer Gastarbeiter in Deutschland aufwuchs, ist selbst ein Beispiel für gelungene Integration. Von 2017 bis 2021 war sie Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen.

Gerade unter denjenigen, die wie Güler türkische Wurzeln haben, ist der Blick für die Zustände in der Türkei besonders geschärft. Der prominenteste Vertreter ist dabei Agrarminister Cem Özdemir (Grüne), der angesichts der Autokorsos von Erdogan-Anhängern in Berlin und anderen Städten in Deutschland erklärt hatte: „Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen.“

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Allerdings erntete Özdemir für seine Äußerungen auch Kritik. Unionsfraktionsvize Johann Wadephul  stellte auf Twitter die Frage, welche Konsequenzen aus den Äußerungen Özdemirs folgten. „Ist das die Position der Bundesregierung?“, wollte der CDU-Politiker wissen. Özdemirs Äußerungen würden mehr Fragen aufwerfen als eine Antwort liefern, monierte er.

Erdogan wird als Staatsmann wahrgenommen

Nach den Worten von Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien in Essen haben zwei zentrale Themen den Wahlkampf in der Türkei geprägt: die Identität und die Sicherheit. Religiöse Menschen sähen in Erdogan einen Garanten für die Ausübung der Religionsfreiheit, sagte Aver dem Tagesspiegel. Dies gelte etwa für das Tragen des Kopftuchs.

„Dies ist im Kollektivgedächtnis der nach Deutschland eingewanderten Türkei verankert“, erklärte er weiter. Die ersten Einwanderergenerationen hätten die entsprechenden Werte auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.

Der wiedergewählte Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt auch bei Türken in Deutschland als Staatsmann, der sein Land als Regionalmacht aufgebaut hat.
Der wiedergewählte Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt auch bei Türken in Deutschland als Staatsmann, der sein Land als Regionalmacht aufgebaut hat.

© REUTERS/Umit Bektas

Zudem werde Erdogan von vielen in Deutschland lebenden Türken als Staatsmann wahrgenommen, der das Land am Bosporus als Regionalmacht positioniert habe. Dagegen spielten abstrakte Werte wie die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit für das Wahlverhalten der Auslandstürken eine untergeordnete Rolle.

Über ihre vor allem in Deutschland aktive Lobbyorganisation UID gelinge es der türkischen Regierungspartei AKP zudem, das konservativ-religiöse Milieu anzusprechen. „Jemand, der konservativ ist und dazu noch eine Diskriminierungserfahrung hat, ist eher geneigt, zur UID zu gehen“, sagte Aver.

Wir haben ein hohes Maß an Politisierung unter den Türken in Deutschland.

Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien in Essen

Auf den Bildern von den Pro-Erdogan-Autokorsos waren auch zahlreiche jüngere Anhänger des türkischen Präsidenten zu sehen. Der Rechtswissenschaftler Eren Güvercin sagte dem WDR, es stelle sich angesichts des Wahlausgangs in Deutschland die Frage, „wie es sein kann, dass eine Führungspersönlichkeit wie Erdogan einen emotionalen Zugang zu diesen jungen Menschen findet, hier bei uns“. Das sei „kein Problem der Türkei, sondern das ist ein deutsches Problem“, sagte Güvercin weiter.

Nur die Hälfte der Deutsch-Türken ging zur Wahl

Dabei lässt die überdurchschnittliche Zustimmung zu Erdogan hierzulande nicht unbedingt Rückschlüsse auf sämtliche Menschen in Deutschland zu, die einen türkischen Pass besitzen. In Deutschland waren rund 1,5 Millionen türkische Staatsbürger aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Aber nur die Hälfte von ihnen ging auch tatsächlich zur Wahl.

Aus der Sicht der Bundestags-Vizepräsidentin Aydan Özoguz liegt das Problem indes nicht nur in der mangelnden Integration in Deutschland. „Viele wissen gar nicht – oder verschließen davor die Augen – wie es den Menschen in der Türkei geht – aus wirtschaftlicher Sicht, aber auch was die Menschenrechte betrifft“, sagte die SPD-Politikerin dem NDR mit Blick auf das Wahlverhalten zahlreicher hierzulande lebender Türken.

Diejenigen, die lediglich für den Urlaub in die Türkei fahren würden, hätten nicht immer im Blick, wie sehr Erdogan die Türkei heruntergewirtschaftet habe, sagte die frühere Integrationsbeauftragte der Bundesregierung weiter.

Autokorso von Erdogan-Anhängern auf dem Kurfürstendamm.
Autokorso von Erdogan-Anhängern auf dem Kurfürstendamm.

© Getty Images/Omer Messinger

„Integration muss nicht nur gefördert, sondern auch eingefordert werden“, sagte indes der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), dem Tagesspiegel. „Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass eine leichte Einreise und der schnelle Zugang zum deutschen Pass automatisch zu einem guten Zusammenleben führen“, sagte er weiter. Im Umgang mit der Migration benötige man „mehr Realismus und weniger Naivität“.

„Wir haben ein hohes Maß an Politisierung unter den Türken in Deutschland. Das ist an sich ein gutes Zeichen“, sagt wiederum der Experte Caner Aver. Die Pläne der Ampel-Regierung zur Erleichterung von Einbürgerungen böten demnächst die Chance, das politische Engagement der hier lebenden Türken für das politische System in Deutschland positiv nutzbar zu machen, ist Aver überzeugt.

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