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In stürmischen Zeiten gedeiht die Sehnsucht nach Ruhe.

© Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/picture alliance/dpa

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt: Alles soll werden, wie es war, und dann bleiben, wie es ist

Der lange Kampf gegen Corona hat die deutsche Veränderungsaversion verstärkt. Darauf müssen sich die Parteien einstellen - vor allem die Grünen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Eine Angst geht um in Deutschland. Es ist die Angst vor Veränderung. Nach mehr als einem Jahr Corona ist der Bedarf an Disruptionen gedeckt. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins alte Leben überwölbt alle anderen Gefühle. In Zeiten, die von unvorhersehbaren Erschütterungen geprägt sind, vom Sich-neu-Einstellen auf Abstandsgebote, Maskenpflicht, Homeoffice, Hygieneregeln und Friseurbesuchs-Modalitäten, wird das Bestehende und Beständige, das Bekannte und Vertraute zu einem wahlentscheidenden Faktor.

In Baden-Württemberg triumphiert ein Grüner - Winfried Kretschmann, in Rheinland-Pfalz eine Sozialdemokratin - Malu Dreyer, in Sachsen-Anhalt ein Christdemokrat - Reiner Haseloff. Von Wechselstimmung keine Spur. Wer im Amt war, soll weitermachen. Entschieden wird vorrangig nicht nach Inhalten und Programmen, sondern nach Dauer und Konstanz. Es wäre ja auch ein Wunder, wenn sich der tiefe gesellschaftliche Einschnitt, den die Maßnahmen gegen Covid-19 verursachten, nicht auf Wahlkämpfe und Wahlen auswirken würde.

Eine Art Warnungs- und Abschreckungswahlkampf

Was heißt das für die Bundestagswahl im September? Ein überragendes, wirklich beherrschendes Thema, das die Auseinandersetzung und Profilierung befördert, ist bislang nicht zu erkennen. Wer den Repräsentanten der Parteien zuhört und anhand ihrer Aussagen bestimmen will, ob sie im Jahr 2013, 2017 oder 2021 gemacht wurden, kann sich leicht irren.

CDU und CSU setzen nach wie vor auf Europa und Stabilität, SPD und Linke auf soziale Gerechtigkeit und höhere Steuern, die Grünen auf Europa und Klimaschutz, die FDP setzt auf Digitales und weniger Staat, die AfD auf weniger Europa und weniger Migranten. So weit, so bekannt.

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Statt eines Wettstreits um die besseren Konzepte und Zukunftsmodelle ist folglich eine Art Warnungs- und Abschreckungswahlkampf zu erwarten. Das beginnt mit möglichen Koalitionen. Von links wird es heißen, eine zu starke Union könnte mit der FDP regieren, das wäre das Aus für Klimaschutz und gerechte Steuerlast. Von rechts dürfte in abgewandelter Form die Rote-Socken-Kampagne wiederbelebt werden mit Mahnungen vor außenpolitischer Unzuverlässigkeit und wirtschaftspolitischer Inkompetenz.

„Klingt zwar drastisch, ist es aber gar nicht“

Am schwierigsten ist die veränderungsaversive Grundstimmung für die Grünen. Vor allem in Sachen Klimaschutz plädieren sie vehement für Reformen. Damit ihnen das nicht zum Nachteil gereicht, müssen sie bestrebt sein, ihre Vorhaben als alternativlos darzustellen. Außerdem hilft es ihnen, wenn sie nachweisen können, dass alle anderen Parteien - außer der AfD - im Prinzip dasselbe wollen. Der Spagat indes dürfte schmerzen: Hier die Profilierung als einzige echte Klimaschutzpartei, dort die Abschwächung nach dem Motto „klingt zwar drastisch, ist es aber gar nicht“.

[Mehr zum Thema: Er selbst das Zugpferd, die Grünen als Schreckgespenst - so ist Haseloff die Überraschung gelungen (T+)]

Bei der Union wiederum, eingekeilt zwischen der AfD im Osten und den Grünen im Westen, könnte die Versuchung unwiderstehlich werden, den Slogan „keine Experimente“ aus dem Jahr 1957 zu reaktivieren. Nicht offensiv zwar, das würde CDU und CSU  übelgenommen, aber implizit. Rhetorisch gleicht Armin Laschet dann haargenau Reiner Haseloff. Konservativ, zuverlässig, bodenständig, erfahren. Sie wissen schon. Weiter so.

Müde, erschöpft, ausgelaugt

Immer stärker zeichnet sich außerdem ab, dass ein Großteil der Kontroversen um Personalien kreist. Es geht um Charakter und Kontaktschuld. Die eine Seite arbeitet sich aktuell an Äußerungen des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ab, die andere Seite am Lebenslauf von Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Wahrscheinlich wird sich in den kommenden Wochen auch noch ein CDUler finden, der die Brandmauer zur AfD einreißen will, und ein Linker, der Gewalt gegen Sachen billigt. Dann wird die Kritik wieder laut sein. Alles wie gehabt.

Die Corona-Pandemie hat innere Gleichgewichte verschoben. Viele Menschen sind müde, erschöpft, ausgelaugt. Der Mut, zu neuen Ufern aufzubrechen, ist nur noch schwach ausgeprägt. Das wirkt sich auch auf das Wahlverhalten aus. Der Wunsch, dass alles wird, wie es früher einmal war, findet seine politische Projektionsfläche in bekannten Gesichtern. Das Werden, wie es war, verwandelt sich schnell in ein Bleiben, wie es ist. Darauf müssen sich die Wahlkämpfer einstellen. Die Stimmung ist anti-aktionistisch. Über Inhalte sollte natürlich trotzdem geredet werden.

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