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Im Freund-Feind-Schema ist kein Platz für Argumente.

© Bodo Marks/dpa

Nach den Morden von Hanau: Gewalt ist eine emotional und körperlich spürbare Form der Selbstermächtigung

Wenn nur noch wahr ist, was von meiner eigenen Gruppe kommt, wird der Mitbürger zum Feind. Ein Essay.

Christian Gudehus ist Sozialpsychologe und Gewaltforscher am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum

Wieder ist der Schock groß: In Hanau erschießt ein Mann neun Menschen mit Migrationshintergrund – als Motive werden Rassismus und Verschwörungstheorien angenommen. Im Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem mutmaßlichen Neonazi vor seinem Haus erschossen.  Im vergangenen Oktober versuchte in Halle ein Täter, die in der Synagoge versammelten Gläubigen zu töten. Das alles geschah in den  vergangenen neun Monaten.

Doch auch wenn es nicht immer zum Äußersten kommt: Morddrohungen sowie verbale und tätliche Angriffe auf Andersdenkende oder Anders Aussehende häufen sich. Sie gehören schon fast zum politischen Alltag in Deutschland. Aber was sind die Ursachen? Woher kommt die Unzufriedenheit mit diesem doch vermeintlich so erfolgreichem Gesellschaftsmodell? Und was treibt diese Radikalisierung an, die in allen so genannten westlichen Gemeinwesen zu beobachten ist?

Es gibt eine Überforderung mit Wandelungsprozessen

Wir können feststellen, dass die Vorstellungen über das richtige Leben immer weiter auseinanderstreben. Was viele als Fortschritt sehen, empfinden andere als Zumutung. Es gibt eine Überforderung mit Wandlungsprozessen, die als exzessiv, als falsch, als unsinnig wahrgenommen werden. Ein Blick auf diverse populäre Onlineportale und die Kommentarspalten von Zeitungen und natürlich auf die Diskussionen in sozialen Medien zeigt, worüber Uneinigkeit besteht.

Beim Thema Ernährung steht der Veganismus versus das Recht auf die Bratwurst (ich lasse mir doch nichts vorschreiben oder gar nehmen). In der Debatte um Gender, Transgender und Feminismus steht die Auffassung „Frauen sind Frauen und Männern sind Männer“ versus jede(r) bestimmt selbst was man ist. Bei Umweltschutz und Klimawandel geht es um weniger Fliegen versus meine Freiheit.

Und immer wieder: Ich lasse mir nichts vorschreiben. Oder genauer: Ich lasse mir von denen nichts vorschreiben. Mit „denen“ sind jene gemeint, die den Zugang zu Burger-Restaurants blockieren oder jene, die Kindern suggerieren, sie hätten ein anderes Geschlecht und diese zu Geschlechtsumwandlungen treiben.

Hierbei ist übrigens unwichtig ob es diese Fälle wirklich gibt, ähnlich wie bei der Brunnenvergiftung durch Juden. Ein Fall – und wie gesagt, vielleicht sogar eine Fälschung reicht – und wird dankbar aufgenommen und verbreitet. Dazu passt die in vielen sozialpsychologischen Studien gut dokumentierte Tendenz, lediglich Informationen zur Kenntnis zu nehmen, die eigene Standpunkte untermauern.

Mit der bald unendlichen Menge an Artikeln, die im Internet kursieren, lässt sich dem leicht nachkommen. In vielen Fällen werden die Texte nicht einmal mehr gelesen, sondern schlicht verlinkt und weitergeleitet. So wird vermeintlich harte Evidenz geschaffen nach dem Motto: Seht, dort steht es geschrieben.

 Unvereinbare Auffassungen dominieren die Diskurse

Zugleich ist ein drastischer Bedeutungsverlust von Mittelpositionen in den Auseinandersetzungen zu beobachten. Gegensätzliche, ja unvereinbare Auffassungen dominieren die Diskurse. Die Diskussionen werden zunehmend ideologisiert und vor allem an die eigene Identität gekoppelt: Alles, was von meiner Gruppe kommt, ist richtig und wahr. Mittelpositionen, die etwa anerkennen, dass Geschlecht eine soziale Konstruktion ist, aber zugleich die Existenz biologischer Differenz akzeptieren, werden immer weniger wahrgenommen.

Drastisch ausgedrückt: Schreihälse dominieren – Mittelmeinungen bleiben ungehört. Die Diskurse werden vereinfacht, die andere Seite lächerlich gemacht und als Feind konstruiert. Anerkennung des Anderen als Grundlage für jede Form von Dialog oder Kompromiss wird schlichtweg verweigert. Es gibt Kein: ich verstehe Dich und respektiere Deine Gefühle und Meinungen, selbst wenn ich Dir nicht zustimmen kann – lass uns überlegen, wie wir einen Kompromiss finden.

Beide Seiten beanspruchen absolute Geltung für ihre jeweilige Sichtweise. Vermittelnde Positionen werden als Verrat an der jeweils eigenen gedeutet: Wenn Du nicht ganz meiner Meinung bist, gehörst Du zu den Anderen. Die Anderen sind nun Feinde – nicht mehr nur Mitbürger mit anderen Meinungen. Und Feinde darf man, muss man, bekämpfen.

Hinzu treten nun identitätspolitische Akteure. Ihr Erfolg und ihre Methoden sind in den USA und in Großbritannien zu beobachten. Ihr Angebot ist, alles wieder in Ordnung zu bringen. Frauen sind Frauen, Klimawandel kein Problem und wir dürfen endlich wieder Merry Christmas sagen (selbst wenn das nie verboten war). Wir bestimmen was wahr ist – auch dann, wenn wir es selbst nicht glauben.

Die Lösung ist die Bekämpfung der als schuldig Benannten

Hier ist auch zu beobachten, wie Ideologien funktionieren: Schritt 1: Eine Reihe sozialer Phänomene wird zu einem Problemkomplex zusammengefasst. Schritt 2: Es werden Verantwortliche, nein Schuldige, benannt. Schritt 3: Es wird eine Lösung angeboten - und diese Lösung kann nur in der Bekämpfung der als schuldig Benannten bestehen. Somit wird nicht im Detail geprüft, ob diese oder jene Maßnahme richtig oder falsch ist. Viel wichtiger ist, wer der Urheber war (ob tatsächlich oder angeblich ist egal).

In den USA ist übrigens auch zu beobachten, wer tatsächlich belogen wird und wer profitiert. Trump und Mitstreiter belügen ja nicht ihre politischen Gegner, wozu auch. Ihr Trick besteht darin, ihren Wählern Identitätspolitik anzubieten (bis hin zu den geplanten Weltraumstreitkräften der Spaceforce) und ihnen zugleich den Boden unter den Füßen wegzuziehen (Stichwort: Gesundheitssystem), um sich selbst zu bereichern.

Warum dieser Ausflug relevant ist? Er zeigt wie bedeutsam Emotionen sind. Gerade im Gegensatz zu ausgewogenen Überlegungen, an deren Ende vielleicht steht, dass es keine hervorragende Lösung für ein Problem gibt, dass es schwierig wird, dass es vielleicht misslingt und dass Änderungen, ja Verzicht Teil der Lösung sein mögen.

 Dialog wird als sinnlos angesehen

Der Kampf, zunächst mit Worten, ist schon immer Teil der politischen Auseinandersetzung. Auch Schläge unter die Gürtellinie, also Beleidigungen oder Unterstellungen, kamen immer wieder vor. Aber nun ist der Gegner der Feind. Es wird, und das ist zentral, keinen Kompromiss geben können. Dialog ist sinnlos – „mit denen kann man eh nicht reden“. Die Normen der Auseinandersetzung werden aktiv, also handelnd immer weiter verschoben. Die Grenzen des Sag- und Machbaren werden schrittweise erweitert. Die einen verweigern einen Handschlag. Andere sprechen eine Beschimpfung aus, oder gar eine Drohung.

An einem anderen Ort in einem anderen Kontext überschreitet jemand die nächste Grenze und geht die körperliche Integrität des vermeintlichen Gegners an. Eine andere Überschreitung ist die Ausdehnung der Angriffe auf Personen, die eigentlich gar nicht Teil der Auseinandersetzung sind. Etwa Familienmitglieder von Politikern. Es kommt zur Sippenhaft. Die Gegner sind nicht mehr einzelne Personen, sondern eine Gruppe, die von den Gewaltakteuren definiert wird. Wir erreichen hier die ersten Stufen kollektiver Gewalt.

Handlung löst Reaktionen aus - auch anerkennende

Was allzu oft in der Diskussion um politisch gerahmte Gewalt übersehen wird: Die Ausübung von Gewalt ist eine emotional und körperlich spürbare Form der Selbstermächtigung. Man spürt sich selbst handeln. Aber man wird auch sichtbar für Andere. Sie sehen die Handlungen und reagieren darauf, mal geschockt, aber eben auch anerkennend. Das Handeln wirkt in vielfacher Hinsicht. Sie zeigt Wirkung bei den Attackierten. Diese sind eingeschüchtert, entsetzt, verzweifelt, ziehen sich zurück, geben klein bei oder aber reagieren aggressiv und tragen so zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung bei.

Übrigens muss diese Art der Gewalt gar nicht politisch sein, selbst wenn sie so erscheint. Die politische Rahmung stellt auch einen Rechtfertigungsraum für jene dar, die schlicht Spaß an der Gewalt haben. Hier zeigt sich auch die Bedeutung und das Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Akteure für Dynamiken, die in die Gewalt führen. Zu diesem Spektrum gehören die Identitätspolitiker ebenso wie Menschen, die Freude an der Verletzung anderer haben.

 Soziale Normen verändern sich

Aber wie genau lässt sich dieser Übergang von der diskursiven Auseinandersetzung zur Gewaltandrohung und schließlich zur Ausübung physischer Gewalt erklären? Zunächst lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie es zu sozialem Wandel kommt und was sich denn genau ändert. Unser Zusammenleben wird von vielen Normen geregelt. Einige sind niedergeschrieben, etwa in religiösen Geboten, Gesetzen, Satzungen, Ausführungsbestimmungen oder Dienstanweisungen.

Andere, nennen wir sie soziale Normen, sind nicht so explizit, eher unausgesprochen und auch nicht immer exakt definiert. Sie regeln etwa, wie man sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hat. Also, dass man sich hinten in einer Schlange anstellt, wie man sich begrüßt, was als höflich und was als unhöflich gilt. Andere Regeln beanspruchen allgemeingültig zu sein – so hat sich, zumindest theoretisch, jede strafmündige Person in einem Land an die für sie gültigen Gesetze zu halten. Tut sie dies nicht, erfolgt eine Sanktion, eine Bestrafung. Im Falle von Gesetzesbrüchen, erfolgen die Sanktionen durch dafür zuständige Institutionen.

Gesetzesbrecher erhalten Anerkennung innerhalb ihrer Gruppe

Aber, und das ist ein wichtiger Punkt, um die Zunahme politischer Gewalt zu verstehen: die Bestrafung durch den Staat oder durch eine betroffene Öffentlichkeit treffen die Normbrecher oft nicht. Sie fühlen sich ja einer anderen Gruppe zugehörig. Die Bestrafung erfolgt durch den Feind und ist daher psychologisch und sozial irrelevant. Mehr noch, die Gesetzesbrecher verdienen durch ihre Handlung soziale Anerkennung innerhalb ihrer Gruppe. Somit verliert die Sanktionsandrohung durch staatliche Institutionen für diese Personen ihre normenbewahrende Funktion.

Während all dies geschieht, analysieren die Darsteller der Mitte das Geschehen. Sie diskutieren mit sich selbst, sie legen Programme aller Art auf. Sie sind besorgt. All das ist allerdings irrelevant für die radikalen Akteure. Die gemäßigten Radikalen und die Gewaltakteure entfalten ihre Wirkung im Zusammenspiel. Dadurch, dass letztere Angst verbreiten, werden erstere gesellschaftsfähig. Den gemäßigten Radikalen wird Kooperation angeboten, weil sie ja Teil der demokratischen Willensbildung sind, weil sie Wählende vertreten, weil sie ja berechtigte Forderungen haben.

Machterhalt wird das wesentliche Ziel der politischen Auseinandersetzung

Und so zerbricht die politische Mitte. Vielleicht zerbrechen sogar Parteien. Wie gesagt, entweder Du bist mein Freund oder mein Feind. Und als eine Konsequenz wird Machterhalt um jeden Preis das wesentliche Ziel der politischen Auseinandersetzung.

Wir beobachten das in ausgeprägter Form (und ja, auf Grundlage eines vollständig anderen politischen Systems) in den USA, aber auch in Großbritannien. Die Folgen für diese Gesellschaften sind aktuell kaum absehbar. Mit Blick auf unsere Nachbarn jenseits des Ärmelkanals ist ein Auseinanderfallender Union in drei Staaten – Schottland, England und Irland – wahrscheinlicher geworden.

Was kann man tun, um diese Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren? Ganz ehrlich? Es gibt wenig Anlass zu Optimismus. Ein großes Problem, solchen Radikalisierungsprozessen entgegenzutreten ist eben, dass es immer weniger Interesse an differenzierten Argumenten, Fakten und somit an ausgewogenen Positionen gibt. In einer dermaßen pluralistischen und komplexen Gesellschaft wie der unseren wird es auch keine plan- und steuerbare Strategie der immer nervöser werdenden Mehrheit geben.

Christian Gudehus

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