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Lesbos, im Jahre 2020: Eine geflüchtete Frau gibt ihrem Neugeborenem etwas Milch zu trinken.

© Alkis Konstantinidis, Reuters

Moral in der Politik: Was der Umgang mit Moria und der Anschlag auf Nawalny gemeinsam haben

Zu viel Moral ist schlecht in der Politik: Das sagen Konservative, wenn's um Flüchtlinge geht - und Linke, wenn's um Russland geht. Wer hat recht? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer in diesen Tagen eine konservative Zeitung zur Flüchtlingspolitik und der Lage auf Lesbos liest, wird vor zu viel Moral in der Politik gewarnt. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter dürfe nicht wörtlich genommen werden. Das Mitleid habe Grenzen. Der gesellschaftliche Frieden sei gefährdet. Ein deutscher Alleingang wäre fatal. Vorsicht vor einem Pull-Effekt. Es könne nur eine europäische Lösung geben.

So lauten die Einwände. Angemahnt wird mehr Realismus, verspottet werden „Gutmenschen“, die sich von ihren humanitären Gefühlen leiten lassen.

Ähnlich klingt der Sound in der Klimaschutzdebatte. Hier gesellt sich zum Vorwurf des Gutmenschentums noch der der Naivität. Das Symbol dafür ist Greta Thunberg. Sie und die Demonstranten der „Fridays-for-future“-Bewegung gelten vielen Konservativen als voraufgeklärt und hypermoralisch. Dagegen steht ein von ihnen propagierter folgenabschätzender Realismus, dessen Vertreter sich auch um die Arbeitsplätze in der Kohleindustrie sorgen. Die Lehre: Zu viel Moral ist schlecht in der Politik.

Wenige Seiten später beklagt sich in derselben konservativen Zeitung ein Kommentator über zu wenig Moral in der Politik. Es geht um den Fall Alexej Nawalny, das deutsch-russische Verhältnis, Gerhard Schröder.

Den Linken im Land wird Kumpanei mit Wladimir Putin und Appeasement vorgeworfen. Stattdessen sollten mit Nachdruck die „westlichen Werte“ eingeklagt, dem Regime in Moskau die Rote Karte gezeigt und Nord Stream 2 beendet werden. Realpolitische Einwände – Dialogfäden nicht abreißen lassen, Energieversorgung sichern, Sanktionen kaum wirksam, hohe Entschädigungszahlungen – werden flott beiseite gewischt.

Mehr Moral war selten in der öffentlichen Debatte

Auch dazu gibt es eine Parallele – die Debatte über das Verhältnis zu China. Auch hier wird Härte angemahnt und die Pflicht, Menschenrechte zu verteidigen. Dabei haben sich in den vergangenen Jahren weder Russland noch China substanziell verändert. In beiden Ländern werden seit langem Dissidenten verfolgt und umgebracht, beide werden autokratisch regiert, beide verbünden sich mit Schurkenstaaten wie Syrien (Russland) oder dem Iran (China).

Geändert aber hat sich offenbar der Stellenwert der Moral in der politischen Debatte. Wurde früher betont, dass China der größte Absatzmarkt für deutsche Exporte ist und deshalb ein Garant für deutsche Arbeitsplätze, heißt es heute, Deutschland müsse sich auf die Seite von US-Präsident Donald Trump schlagen und zu Demonstrationszwecken sein Militär in die pazifische Region entsenden.

Bigotterie ist in der Politik nicht ungewöhnlich

Natürlich gilt die Beobachtung auch umgekehrt: Eine linke Zeitung publiziert einen moralgetränkten Kommentar zur Flüchtlingspolitik und einen realpolitisch argumentierenden Kommentar zum deutsch-russischen Verhältnis. Auffallend ist weniger das jeweils instrumentelle Verhältnis zur Moral als vielmehr die inflationäre Berufung auf sie. Mehr Moral war selten in der öffentlichen Debatte.

Die einen rufen „Moria“, die anderen „Nawalny“. Sie eint das Entsetzen - über eine akute Notlage einerseits, ein Staatsverbrechen andererseits. Sie eint der Wille, daraus sofort Konsequenzen zu ziehen. Und sie eint der Widerwille, diese Konsequenzen realpolitisch gegen Kosten und Nutzen abzuwägen. Bigotterie ist in der Politik nicht ungewöhnlich. Aktionismus auch nicht. Heiße Herzen aber brauchen einen besonders kühlen Kopf.

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