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Olaf Scholz (SPD), kommissarischer SPD-Vorsitzender und Andrea Nahles, Fraktionsvorsitzende, begrüßen sich im Reichstagsgebäude zu Beginn der Sitzung der Bundestagsfraktion. +

© Wolfgang Kumm/dpa

SPD sagt "Ja" zur Groko: Mit Verlaub, das war keine Staatskrise

Es hat Monate gedauert, bis Deutschland nach der Wahl wieder eine Regierung bekommen hat. Aber in dieser Zeit kam auch viel Gutes zum Vorschein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Habemus Groko. Deutschland ist gerettet. Vor Instabilität, vor einer wackeligen Minderheitsregierung, davor, Neubelgien zu werden, nur in Konfektionsgröße 80 Millionen, oder, noch schlimmer, Italien! Ja, gerade noch mal gerettet, vor nichts geringerem als einer Staatskrise.

Zieht man das Bild so groß, erklärt sich die fast pastorale Euphoriefreiheit, mit der der geschäftsführende SPD-Chef Olaf Scholz am Sonntagmorgen das Ergebnis des SPD-Mitgliedervotums über den Koalitionsvertrag verkündete: Eine sehr hohe Beteiligung von 78,39 Prozent der Mitglieder, 66,02 Prozent für die große Koalition, 33,98 Prozent dagegen.

Vorerst hat wieder die Mitte gesiegt

Ein bisschen weniger staatstragende Feierlichkeit wäre aber auch okay gewesen. „Staatskrise“ – das Wort ist zu groß für das, was da dräute und für das, was das Land in den vergangenen Wochen erlebt hat. Es stimmt, Deutschland und die SPD haben in den vergangenen Wochen viel über sich selbst verhandelt, sehr grundsätzlich, gelegentlich auch existenziell. Das Land hat zwischen radikaleren Alternativen geschwankt. Mit dem SPD-Mitgliederentscheid und auch mit dem Personaltableau der Union aber hat vorerst wieder die Mitte gesiegt: Jenes Deutschland, dass sich selbst langweilig findet, aber Stabilität trotzdem den Vorzug gibt.

Sicher, die vergangenen Wochen waren mehr als ein kleines Ruckeln im System. Auch, wenn die breite politische Mitte jetzt noch mal ran darf – sie hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Der 24. September und die lange Regierungsbildung haben gezeigt, wie viel sich seit der Flüchtlingskrise in Deutschland verändert hat. Die Volksparteien sind weg. Um Volkspartei zu sein, müsse man 40 Prozent anstreben, sagte die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer kürzlich in einem Interview. Davon ist die Union weit entfernt – die SPD mit ihren 15 bis 18 Umfrageprozenten sowieso.

Die "Krise" hat auch Gutes

Längere Phasen der Regierungsbildung könnten Normalität werden, inklusive Bürgerfrust, Frust bei den Nachbarn und Verlust an Effektivität. Journalisten, Parteifunktionäre und Verfassungsrechtler sind tief eingestiegen in Auslegung des Artikel 63 – dem Artikel zur Wahl der Bundeskanzlerin im Bundestag – haben darüber diskutiert, ob die Deutschen eine Minderheitsregierung aushalten würden und wie lange. Zumindest gedacht wurde dieses völlig andere Deutschland jetzt einmal, auch, wenn’s nicht Wirklichkeit wird, vorerst.

Eine Staatskrise ist das dennoch nicht. Denn in der „Krise“ kam viel Gutes zum Vorschein.

Mehr Leben in der Bude Demokratie

Zu den guten Dingen, gehört, erstens: Das Land ist zutiefst politisch, von einem generellen Abwenden von der Politik, von der Demokratie, kann keine Rede sein. 24.000 neue Mitglieder sind in die SPD eingetreten, um mitzuentscheiden. Sie haben eine politische Stimme für sich reklamiert. Die Parteifunktionäre ebenso wie die GroKo-Gegner sind viel gereist, haben sich in Regionalkonferenzen der Debatte gestellt. Die SPD kennt sich besser jetzt als vorher, immerhin das. Und auch der Union tut die Ausrichtungsdebatte gut.

Zweitens: Die politischen Ränder haben nach Kräften versucht, die angeschlagenen Mitte-Parteien zu fleddern, konnten aber weniger profitieren als gefürchtet. Die AfD warnte gestern vor weiteren vier „Horrorjahren“ unter „ideologischer“ Führung. Ein klarer Katastrophengewinnler der mittleren Erdbeben seit der Bundestagswahl ist sie nicht. Die Partei sitzt jetzt zwar im Bundestag und konnte in den Umfragen teilweise leicht im Vergleich zu ihrem Wahlergebnis zulegen. Im Bundestag aber reagieren viele Abgeordnete anderer Parteien klug, sachkundig, leidenschaftlich und humorvoll auf die Dauerprovokation. Auch hier: Mehr Leben in der Bude der Demokratie.

Die Union widersteht dem Ruf nach einem Rechtsruck

Die Linke hoffte auf enttäuschte SPD-Mitglieder oder eine Chance auf eine linke Sammelbewegung. Jetzt ist sie selbst enttäuscht, merklich. Parteichef Bernd Riexinger unkte am Sonntag als Reaktion auf das Ergebnis des Votums in die Kameras, die SPD mache sich wieder zum Steigbügelhalter, das werde sie schwächen. Das klang nach schlechtem Verlierer.

Drittens: Die Polarisierung der ehemaligen Volksparteien fällt vorerst aus. Die Spitze der Union hat dem Ruf nach einem Rechtsruck widerstanden. Hier ist keine bürgerlich-konservative Konterrevolution zu erwarten. Mit dem „Heimatministerium“ und den Posten für konservativere Kräfte wie Jens Spahn werden Konzessionen an den rechten Flügel gemacht (man könnte auch sagen: an die AfD), doch die Union bleibt in der Mitte, Generalsekretärin ist die in jeder Hinsicht ausgeglichene Annegret Kramp-Karrenbauer.

Und dann ist da, viertens, noch der Koalitionsvertrag selbst, ein dickes Auftragsbuch an die neue, alte große Koalition, das vielleicht keine Visionärsleistung ist, aber viele wichtige Punkte enthält, die auch wieder die Mitte stärken, dieses Mal die gesellschaftliche. Die Mittelschicht dürfte in den nächsten Jahren finanziell deutlich entlastet werden.

Nicht nur die SPD, auch Deutschland erteilt erneut allen Formen der Radikalität eine Abfuhr und versucht es noch mal im Zentrum. Der Ausgang ist offen – für eine sichere Prognose ist dann doch zu viel in Bewegung. Den Versuch aber ist es allemal wert.

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