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Es gibt keine digitale Öffentlichkeit, keine Twitter Öffentlichkeit. Es gibt nur Öffentlichkeit.

© Fabian Sommer/dpa

Mit Laschets Lacher Stimmung gemacht: Brutal, aber effizient – nur eine Partei hat Twitter verstanden

Soziale Medien haben eine immense meinungsgestaltende Macht. Die Politik hat es im Wahlkampf mehrheitlich versäumt, daraus Kapital zu schlagen. Ein Gastbeitrag.

Der Beziehungsstatus von Jens Spahn und Twitter ist kompliziert. Einerseits ist der Gesundheitsminister hier sehr aktiv. 189 Tweets und 645 Retweets in den letzten 97 Tagen.

Andererseits verstieg sich der Dauertwitterer kürzlich in einem Spiegel-Interview zu folgender Aussage: „Die meisten Bürgerinnen und Bürger lassen sich nicht von Schlagzeilen treiben, das merke ich, und schon gar nicht von Twitter. Aber wer glaubt, dass Twitter etwas mit der realen Welt zu tun hat, der ist schief gewickelt. Ich kann allen Wahlkämpfern und Spitzenkandidaten nur empfehlen, auf die Menschen im Land und nicht die Twitterblase zu achten – oder Twitter einfach wegzulassen.“

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Das ist ein wenig so, als würde Helene Fischer in einem Interview die These aufstellen, Pop Schlager wäre keine echte Musik und deren Fans hätten nicht mehr alle Latten am Zaun. Außerdem offenbaren sich in diesem kurzen Zitat ein paar der elementaren digitalen Denkfehler Spahns.

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Denn es gibt keine digitale Öffentlichkeit, keine Twitter Öffentlichkeit mehr. Sondern nur noch Öffentlichkeit. Alles bedingt sich kommunikativ gegenseitig, ist mittlerweile ein großer sich selbst befruchtender Organismus. Wobei immer öfter im digitalen Raum Stimmungen entstehen. Und jene sich dann verbreiten. Zum Beispiel in „die Medien“. Und so schließlich zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema werden.

Wir nennen das den „Spill-Over-Effect“. Und der erreicht auch genau die „Menschen im Land“. Das große Missverständnis Spahns ist, dass er glaubt, die Welten seien durch eine unüberwindbare chinesische Mauer aus Einsen und Nullen getrennt. Hätten nichts miteinander zu tun. Doch das Gegenteil ist der Fall. Man erreicht einige Menschen vielleicht nicht direkt über einen digitalen Kanal. Aber die Welle, das Narrativ, die Stimmung, die im Netz entsteht, bricht sich Bahn. Und erreicht am Ende – um so gewaltiger – jeden.

Jens Spahn.
Jens Spahn.

© Thilo Rückeis

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Fairnesshalber muss man sagen, dass Spahn und seine CDU nicht die Einzigen sind, die an dieser Stelle zu begrenzt denken. Das gilt, mal wieder, für fast alle Parteien im Bundestagswahlkampf 2021.

Ein kurzer Blick zurück: Nach der Europawahl 2019 schrieb ich einen Text mit der gar nicht mal so steilen These, die Politik in Deutschland habe Social Media nicht verstanden. Anlass war die hilflose Reaktion der CDU auf das Video „Die Zerstörung der CDU“ von Rezo, welches die digitale Behäbigkeit der größten Partei Deutschlands vorführte. Die Reaktion auf das mittlerweile 19.3 Millionen mal gesehen Video: Ein Reaction-Video von Amthor (das nie gezeigt wurde…). Ein seitenlanges PDF. Ein für Kommunikation zuständiger Generalsekretär – der nicht wusste, wie man einen Thread macht. Sie erinnern sich.

Inzwischen haben die Parteien aufgerüstet. Sie arbeiten mit Social Media Managern. Motion Designern. Data-Analysten. Listening Tools. Einige sind auch besonders stolz auf ihren Newsroom. Allerdings ist nicht jedes Großraumbüro mit Flachbildschirmen an der Wand ein Newsroom. Ein Newsroom ist am Ende eben kein Raum. Sondern eine Denk- und Arbeitsweise. Und die wird im politischen Berlin nicht bis kaum gelebt.

Die Hardware ist da. Aber eben auch nicht mehr. Ein existenzielles Verständnis was Social Media kann, welche meinungsgestaltende Macht es sein könnte, wie Momentum und Stimmungen heute erzeugt werden, wie Kleinigkeiten zum eigenen Nachteil skandalisiert werden, wie man aus dieser Spirale wieder hinausfindet, Stimmungen dreht, Geschichten erzählt, wie man die Unentschlossenen erreicht (denn um die geht es!) anstatt nur mit den eigenen Anhängern zu sprechen („preaching to the converted“) haben die Parteien allesamt nicht kapiert. Außer vielleicht ein paar wenige kluge Menschen bei der SPD.

Wir kommen aus einer Zeit, in der die traditionellen Medien die Newslage vorselektiert haben. Hier geht es nicht um den Inhalt einer News. Sondern um das sogenannte Agenda-Setting. Vereinfacht gesagt: Was auf Seite eins der Tageszeitungen, als erste News in der Tagesschau stattfand, war wichtig. Was weiter hinten vorkam - weniger wichtig. Was gar nicht vorkam, schlusslogisch unwichtig. Heute ist das anders.

Alles, was in meine Timeline gespült wird, ist auf den ersten Blick gleich relevant. Gleich groß. Gleiche Zeichenanzahl. Gleiches Umfeld. Wichtiger wird ein Thema also nicht durch die Einordung von Journalisten. Durch eine besondere Darstellung. Sondern durch das Engagement meiner Follower und Freunde.

Runtergebrochen auf diesen Wahlkampf bedeutet das: Ein unangebrachter Lacher ist ein größerer Aufreger als die Hintergründe zu einem objektiv ungleich größeren Skandal – der Causa Wirecard. Ein Lacher versendet sich nicht mehr. Wird zig tausendfach geteilt und kommentiert. Mit einem Narrativ versehen, das sich verselbstständigt. Und dann vom eigenen Team nicht mehr eingefangen wird.

In dieser Welt ist auch ein getunter Lebenslauf störender als Cum Ex Steuertuning. Weil das Thema eben weniger komplex ist. Ein Klischee bedient. Schnell kommentiert und geteilt werden kann. Und dadurch gerade in den sozialen Medien funktioniert. Einen süffigen Spin transportiert, der von Start weg eine ganze Kampagne belastet.

Das kann man jetzt alles schlimm finden. Ganz doof und ungerecht. Hilft nichts. So ist es eben. Die neue Medienrealität ist komplex. Aber zumindest von den Teams und Agenturen der Parteien sollte man erwarten, dass sie wissen, was sie tun.

Selfies von sich beim Wahlplakate kleben und ständig sein „tolles Team“ loben ist kein Social Media Wahlkampf. Genauso wenig wie selbstreferentielle Partei Influencer. Genauso wenig, wie die langweilige und lieblose Verlängerung einer traditionellen Kampagne in die Social Networks. Ohne eignes Social Narrativ.

Ein Social-Vorurteil lautet: Mit einem Tweet gewinnt man keine Wahl. Total richtig. Stimmt. Hat aber auch noch nie einer behauptet. Zumindest keiner mit Ahnung. Das kann allerdings auch keine Anzeige. Kein Wahlplakat. Kein Spot. Keine Hauswurfsendung.

Aber was ein Tweet im Gegensatz zu einer Anzeige kann: Einen Dialog anstoßen. So eine Diskussion auslösen. So eine Stimmung erzeugen. So Momentum schaffen. Das hat in diesem Wahlkampf nur eine Partei geschafft: die SPD. Mit Humor. Und harten Bandagen.

Das Klingbeil-Team hat jeden Auftritt von Armin Laschet brutal durchleuchtet. Tranchiert. In Einzelteile zerlegt. Und daraus den einen digitalen Spin destilliert. Der ihr eigenes Narrativ weiter getragen hat: Der Lacher. Die Maske. Der Schrotthaufen. Das Eis. Die Schuhe. Die drei Gründe, CDU zu wählen. Die Kinder. Das Trinkgeld. Der Wahlschein. In Echtzeit aufgearbeitet. Distribuiert. Kommentiert. Bis sich das Image des irrlichternden Kandidaten, der immer versagt, wenn es heiß in der Küche wird, manifestiert hat. Sportlich und fair? Nicht unbedingt. Effizient? Sehr.

Nur so setzt du Themen und Stories. Nur so schaffst du es aus deiner Bubble raus. Es hilft eben nichts, eine lustige CDU-Meme-Seite für Instagram zu bauen und dich dafür abzufeiern, wenn die Dinger niemand freiwillig vertreibt. Außer dem ein oder anderen JU-ler.

Ein weiterer Punkt für die SPD: Sie hat lange vor dem Wahlkampf ein lockeres Netz von Influencern aufgebaut. Subtil und organisch. Eben nicht nur Leute aus der eigene Partei in die eigenen Netzwerke integriert. Sondern politisch nicht festgelegte Katalysatoren aus allen Bereichen. Die Wirksamkeit war besonders gut bei den Triellen zu sehen.

Die SPD dominierte den offiziellen Triell-Hashtag fast durchgängig. Das zeigen die Datenanalysen sehr genau. Die CDU schaffte es oft nicht mal in die Top Ten. Nichts schien vorbereitet. Strukturiert. Parteinahe Twitterer fotografierten sich stattdessen lustig gegenseitig im Konrad Adenauer Haus. Vergaßen aber den Hashtag. Aua.

Aber auch die FDP ließ eine große Chance ziehen. Die FDP? Christian Lindner war doch gar nicht zum Triell geladen! Eben! Twitter gibt dir die Möglichkeit, dich an Tische zu setzen, an denen dich keiner haben will. Wie grandios wäre es gewesen, wenn Lindner jede Frage an Laschet, Scholz, Baerbock auf Twitter beantwortet hätte. Klüger. Schneller. Lustiger. Er wäre der große Sieger des Triells gewesen. Ganz sicher.

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Die Versuche, der CDU Kapital aus dem einen oder anderen unbestreitbaren Scholz-Skandal zu ziehen, wirkten dagegen unausgegoren und anachronistisch. Die altbekannte Strategie: Irgendwas bleibt schon hängen! Aber auch das ist ein altes Medien-Gesetz, das so heute nicht mehr zutrifft. Es bleibt, egal wie groß der Skandal ist, nicht immer was hängen. Die News-Lautstärke ist so groß, die Skandaldichte so dicht, dass Skandale keine Konsequenzen haben. Sonst wären weder Andreas Scheuer noch Heiko Maas so lange im Amt geblieben.

Es gibt einfach zu viele Informationen, die sich als Skandal tarnen. Die Leute können und wollen sich nicht mehr alles merken. Sie können nicht mehr alles einordnen. Denn dass Jimmy Blue Ochsenknecht seine schwangere Freundin verlässt, erscheint genauso schlimm, wie das Versagen des Bundesfinanzministers bei Wirecard.

Die CDU hat es schlichtweg versäumt, aus den komplexen Scholz-Skandalen wie Cum Ex und Wirecard die Geschichte zu destillieren. Scholz digital zu framen. Und daraus Stimmung für den eigenen und gegen den anderen Kandidaten zu machen. Eigentlich eine Stärke der CDU. Und eine Schwäche der SPD.

Diesmal war es umgekehrt. Dieser Wahlkampf muss der zweite Rezo-Moment für die CDU werden. Die ganze Kommunikation muss hinterfragt, die Kampagnenfähigkeit wiederhergestellt werden. Ein Anfang wäre es, wenn Spahn in seinem nächsten Interview nicht sagt, dass Twitter für die politische Kommunikation egal sei. Zumindest ein kleiner. 

Philipp Jessen ist Geschäftsführer von Storymachine. Der vormalige Chef von Stern.de hat das Start-up 2017 gemeinsam mit dem ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und dem Unternehmer Michael Mronz gegründet. Storymachine bietet auf Social Media spezialisierte Kommunikationsberatung.

Philipp Jessen

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