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Kanzlerin Merkel mit Finanzminister Scholz und Außenminister Mass in Meseberg

© Reuters/Fabrizio Bensch

Schwarz-rote Bundesregierung: Misstrauen zwischen Union und SPD

Ob Paragraf 219a, Familiennachzug oder Arbeitnehmerrechte – in der Koalition gibt es Streit um jedes Vorhaben. Manchmal ist das nicht nachzuvollziehen.

Von Robert Birnbaum

Der Vizekanzler strahlte Optimismus aus. „Teambildung gelungen“, verkündete Olaf Scholz nach der ersten Kabinettsklausur im Regierungsschlösschen Meseberg. Gerade mal zwei Wochen später aber erscheint die Frage angebracht, wer da in trauter Runde eigentlich mit wem ein Team gebildet haben soll. Von den zentralen Gesetzesvorhaben, die die große Koalition nach der monatelangen Regierungsbildungspause jetzt noch vor der Sommerpause abschließen will, geht bisher praktisch keins ohne lautstarken Streit zwischen den Partnern durch. Die SPD-Drohung, beim Streit um den Paragrafen 219a kurzerhand den Koalitionsvertrag zu ignorieren, ist nur die schärfste Spitze eines mittlerweile ziemlich großen Eisbergs.

Da ist zum Beispiel der Familiennachzug für subsidiär Geflüchtete. Am ersten Entwurf von Innenminister Horst Seehofer (CSU) meldete sogar Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) Korrekturbedarf an. Der SPD-Parteitag versuchte dann am Wochenende per Beschluss die SPD-Minister noch mal eigens in die Pflicht zu nehmen, auf strikte Einhaltung des Koalitionsvertrags zu pochen. Das Problem ist nur, dass Seehofers Truppen ebenso auf das Papier pochen. Ab 1. August dieses Jahres, ist dort zu lesen, werde „der Zuzug auf 1000 Personen pro Monat begrenzt“ wieder zugelassen. SPD-Politiker wie der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius interpretieren die 1000 als Untermenge eines Jahreskontingents von 12.000 Menschen und wollen nicht ausgeschöpfte Monatskontingente auf den nächsten Monat aufschlagen.

Streit um des Kaisers Bart

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt lehnt dieses Verrechnungsmodell vehement ab: „Da steht nicht 12.000, da steht 1000 pro Monat“, sagt Dobrindt. Was das heiße, sei in der Koalitionsrunde allen klar gewesen; von Verschiebung stehe nichts im Vertrag. Das stimmt. Von einem Verschiebeverbot steht im Vertrag allerdings auch nichts.

In der Sache ist der Deutungsstreit wohl einer um des Kaisers Bart; dass die 1000er-Quote häufig unterschritten wird, erscheint nach den Zahlen der Vergangenheit unwahrscheinlich. Er zeigt aber das Misstrauen unter den Partnern.

So ähnlich geht es auf vielen Gebieten weiter. Immer steht dabei der Vorwurf im Raum, dass ein Partner gegen Abmachungen verstoße. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) etwa kontert Kritik an seinem Entwurf zum Teilzeit-Rückkehrgesetz mit dem Hinweis auf den Koalitionsvertrag: Dort stehe nichts davon, dass aus dem alten Gesetzentwurf seiner Vorgängerin Andrea Nahles die Beweislastumkehr zu streichen sei.

Es geht dabei um den Fall, dass ein Teilzeit-Beschäftigter Anspruch auf Vollzeit anmeldet. Nach Heils Entwurf kann der Arbeitgeber das nur ablehnen, wenn er nachweist, dass er keinen Vollzeitjob anbieten kann. Die Arbeitgeber laufen dagegen Sturm und berufen sich auf Zusagen von Nahles während der Koalitionsverhandlungen, die Heil aber für irrelevant erklärt: Nicht irgendein Zwischenstand, sondern der Vertragstext zähle.

Und dann wäre da noch der Paragraf 219a. Der verbietet Werbung für Abtreibungen, worunter nach jüngsten Gerichtsurteilen auch schon Hinweise von Ärzten auf ihrer Homepage fallen, dass sie Abtreibungen vornehmen. Die SPD will den Paragrafen abschaffen. Unionsfraktionschef Volker Kauder hatte der Kollegin Nahles sogar zugesagt, dass für einen schon länger vorliegenden SPD-Antrag das Koalitionsverbot noch nicht gelten sollte, sich im Bundestag Mehrheiten ohne den Partner zu suchen. Kauder musste die Zusage aber nach einem Aufstand in der eigenen Fraktionsspitze zurücknehmen. Nahles tat ihm den Gefallen gegen die Zusage, gemeinsam eine Kompromisslösung zu suchen.

Doch am letzten Wochenende setzte der SPD-Parteivorstand, kurz bevor der Parteitag Nahles zur Chefin wählte, nicht nur eine Frist zur Einigung bis zum Herbst. Er forderte obendrein, die SPD-Fraktion solle sich andernfalls Partner im Parlament suchen.

Die stehen bereit. Die FDP bietet sich offen an, Grüne und Linke würden mitmachen. Nur bedeutete ein solches SPD-Votum den offenen Koalitionsbruch. Wechselnde Mehrheiten gegen den Partner schließt jeder Koalitionsvertrag aus.

Krisenrunde der Kontrahenten

Am Mittwoch lud Kanzleramtschef Helge Braun die Kabinettskontrahenten zur Krisenrunde. Die habe einen „sehr konstruktiven Austausch“ gehabt, versicherte hinterher eine Sprecherin von Familienministerin Franziska Giffey (SPD). Eine Lösung fand der Kreis aber nicht; Justizministerin Katharina Barley (SPD) bestand weiter auf einer Rechtsänderung, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) weiter strikt ablehnt.

Was diesen Konflikt doppelt gefährlich macht, ist seine gesellschaftspolitische Aufladung. In der Union äußert nicht nur Dobrindt den Verdacht, die 219a-Gegner wollten in Wahrheit den Kompromiss der 90er Jahre aufkündigen, nach dem eine Abtreibung rechtswidrig ist, aber in gewissen Fristen und nach einer Beratung straffrei bleibt. Dürften Abtreibungen als normale ärztliche Leistung angeboten werden, werde diese Doppel-Botschaft des Gesetzes verwässert.

Auf SPD-Seite herrscht der umgekehrte Verdacht, dass radikale „Lebensschützer“ das Werbeverbot als juristisches Vehikel missbrauchen wollen, umÄrzte zu kriminalisieren und damit betroffenen Frauen wie Medizinern eine Abtreibung mindestens zu erschweren.

Kompromissideen in der Sache gibt es. Sie reichen von einer Begrenzung des Werbeverbots auf offensive Reklameformen bis hin zum Vorschlag der Bundesärztekammer, eine Liste aller Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, in einem öffentlichen Register aufzulisten. Aber das Ultimatum der SPD-Spitze hat die Sach– zur Machtfrage gemacht. Formal bindet es die Abgeordneten nicht, doch Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider räumt ein, dass das zumal angesichts von Nahles’ Doppelfunktion eine sehr theoretische Sicht wäre. Zugleich versichert Schneider, die SPD suche nicht gezielt Streit: „Wir wollen keine Verschärfung.“

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