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Menschenrecht und Menschenpflicht: Wer soll Flüchtlinge aufnehmen, wenn nicht Europa?

Dieses Europa ist die einzige Insel der Freiheit, die für die entwurzelten Menschen erreichbar ist. Dem müssen wir uns stellen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Ein Kind liegt am Strand. Es spielt nicht. Es schaut auch nicht den Wellen zu. Es macht keinen Urlaub mit seinen Eltern. Das Kind ist tot. Ertrunken, weil das Flüchtlingsboot vor der türkischen Küste sank, mit dem seine Eltern eine griechische Insel erreichen wollten. Das Kind, wohl drei Jahre alt, stammt wie seine Familie aus der syrischen Stadt Kobane, von wo Tausende vor den Terrormilizen des IS Sicherheit in Europa suchen.

Jedem, der dieses Bild gesehen hat, wird es wie ein Brandzeichen im Gedächtnis vor dem inneren Auge stehen, wenn Worte wie Scheinasylanten oder Wirtschaftsflüchtlinge fallen, wenn über Quoten und Überfremdung geredet wird. Niemand, der die Auseinandersetzung über den Umgang mit den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea bislang als eher ferne Debatte wahrgenommen hat, die ihn nicht betrifft, kann jetzt noch sagen, er wisse nicht, worum es geht – um Menschen, unschuldige Kinder, Frauen und Männer, die verzweifelt versuchen, ihr Leben zu retten.

Um was es hier geht, ist auch kein deutsches Problem, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban meinte, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verteilen und sich selbst vor ihnen drücken zu müssen. Es ist vom Entstehen her ein mittelöstliches Problem. Der Ursprung des Hasses und des durch keine Humanität gezügelten Vernichtungswillens gegenüber anders glaubenden und anders denkenden Menschen liegt in dieser Region. Der Konflikt kann letztlich auch nur in dieser Region gelöst werden. Aber wenn wir nicht zuschauen wollen, wie Tausende massakriert werden oder auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, werden wir Europäer unseren Beitrag leisten, unsere Menschenpflicht erfüllen müssen. Andere Länder werden es nicht tun können, denn dieses Europa, diese Europäische Union, ist die einzige Insel der Freiheit, die für die entwurzelten Menschen in erreichbarer Nähe liegt. Warum sie zwar nach Jordanien, in den Libanon und in die Türkei flüchten, aber nicht in den Iran oder nach Saudi-Arabien – das ist eine Frage, die vielleicht in der nächsten Vollversammlung der Vereinten Nationen diskutiert werden sollte.

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat gesagt, kein Mitgliedsland der EU dürfe sich mit dem Argument vor der Verantwortung drücken, man habe keine Tradition der Flüchtlingsaufnahme. Polen und die Slowakei wollen keine Muslime aufnehmen. England, das, dank all seiner britischen Tugenden, seit 200 Jahren aus dem gesamten Commenwealth Menschen aufnimmt, ohne seine Eigenart gefährdet zu sehen, wird nun von einem Premier regiert, der die Flüchtlinge von Calais mit mehr Zäunen, mehr Polizisten und mehr Hunden (oh ja, genau das hat David Cameron gesagt) von der Insel fernhalten will.

Natürlich haben Quotenregelungen nur begrenzte Wirkung. Menschen sind keine Waren, die man hin- und herschieben kann. Viele Flüchtlingen wollen dorthin, wo schon Landsleute, wo Verwandte oder Freunde leben. Das war schon immer so. Das kann die EU bei ihren Überlegungen nicht einfach negieren. Als am 23. Oktober 1956 der ungarische Volksaufstand begann, flüchteten 200 000 Ungarn vor den sowjetischen Panzern nach Österreich. Viele blieben dort, jeweils 14 000 wurden von der Schweiz und Deutschland aufgenommen. Dass dies ein ungarisches Problem sei, das hat damals in Europa niemand gesagt.

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