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 Egon Bahr (90) ist Jury-Vorsitzender für den Internationalen Willy-Brandt-Preis.

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Exklusiv

Egon Bahr zum Williy-Brandt-Preis: „Mehr Demokratie ist die Lösung für Probleme“

Der norwegische Premier Jens Stoltenberg hat den Willy-Brandt-Preis gewonnen. Im Interview erklärt der Juryvorsitzende Egon Bahr was Stoltenberg mit dem Altkanzler verbindet.

Von Hans Monath

Herr Bahr, was hat Sie beeindruckt am norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, der mit dem Willy-Brandt-Preis ausgezeichnet worden ist?

Ich habe ihn bewundert für die schweren Tage und Wochen und Monate, die er und sein Land nach dem schrecklichen Verbrechen Anders Breiviks im Sommer 2011 durchgemacht haben. Auch in diesem Schockzustand hat er die Werte der offenen Gesellschaft nicht etwa preisgegeben, sondern vielmehr erklärt: „Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.“

Erinnert Sie diese Formulierung an etwas ?
Das kann man wohl sagen. Diese Formulierung hat mich alarmiert. Sie erinnerte mich sofort an das Wort „Mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung im Herbst 1969. Das war damals eine Sensation und provozierte den wütenden Protest der konservativen Opposition. Was war gemeint? Die erste Säule der sozialliberalen Koalition war die Entspannungspolitik. „Mehr Demokratie wagen“ stand für die Gesamtheit der Bemühungen um Reformen in der Innenpolitik. Aber niemand wusste, woher dieser Ausdruck kam.

Wissen Sie es heute?
Ich glaube schon. Ich habe in Dokumenten nachgeforscht und herausgefunden, dass keiner der Mitarbeiter Brandts die Formulierung vorgeschlagen hatte, weder der damalige Kanzleramtsminister Horst Ehmke noch Günter Grass, der Vorschläge für die Rede gemacht hatte. Das heißt: Sie konnte nur von Willy Brandt selbst kommen. Da es diese Formulierung aber im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen damals nicht gab, muss er sie aus seiner Exilzeit in Norwegen in Erinnerung gehabt haben – als stilles Mitbringsel. So schließt sich der Kreis.

War der Aufruf „Mehr Demokratie wagen“ nur erklärbar aus dem Geist der Reformära der 70er Jahre – oder ist er auch im 21. Jahrhundert aktuell?
Unbedingt. Der Schlachtruf der Union hieß 1969 „Keine Experimente“. Damals verkündeten die Konservativen noch, es bedeute den Untergang Deutschlands, wenn die SPD an die Regierung komme. Aus der Sicht von Brandt war damals jeder Tag prekär und unwiederholbar. Es hieß für uns: Alles oder nichts, jetzt kommt’s darauf an. Eine vergleichbare Situation haben wir in der heutigen Zeit. Ich denke an die Krise Europas, die wir auch nur durch eine demokratische Vertiefung lösen können. Da hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz recht. Die Ausbreitung der Idee der Demokratie ist einer der Kernpunkte für die Lösung von Problemen, die vor uns stehen.

Und auch über die Grenzen der Europäischen Union hinaus?
Natürlich. Ich denke dabei an unsere Nachbarn östlich von Polen. Das größte Problem für Europa nach der Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten Barack Obama ist die Frage, ob die USA und Russland sich einigen können über die Raketenabwehr, die die USA planen und durch die sich Russland bedroht fühlt. Wenn die Frage der Raketenabwehr nicht geregelt wird, steuern wir in eine neue Konfrontation, dann droht ein neuer kalter Krieg mit einer neuen Rüstungsspirale. Deutschland kann dann nicht ausscheren und wird mit aufrüsten müssen. Das Thema Demokratie ist ein Schlüsselthema für Europas Zukunft.

Partner der Sozialdemokraten in der Regierung Brandt waren die Liberalen. Wäre die FDP heute auch noch ein guter Partner der SPD für das Ziel „Mehr Demokratie wagen“ – oder sind die Grünen da geeigneter?
Auch wenn Walter Scheel mein Freund bleibt, ist die FDP in ihrer gegenwärtigen Struktur kein Partner für die SPD. Das sagt sie ja selbst. Ich sehe den natürlichen und einzigen Partner für uns in den Grünen. Sie werden verstehen, dass ich das alles mit Willy Brandt verbinde. Er hat als Erster die Verrücktheit besessen und gesagt: Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden. Er war interessiert daran, die Jugend nicht zu verlieren, die Außerparlamentarische Opposition nicht zu verlieren. Die Grünen kommen aus der Anti-Atom-Bewegung, haben die Ideen des Umweltschutzes und der Bürgerbeteiligung starkgemacht. Niemand kann auch nur eine Sekunde lang glauben, dass wir die gegen die FDP austauschen.

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