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Ein medizinischer Mitarbeiter entnimmt einer Frau einen Nasenabstrich für einen Corona-Test. Indien ist das weltweit am zweitstärksten von der Pandemie betroffene Land.

© Mahesh Kumar A/AP/dpa

Mehr als vier Millionen Infizierte: Indien wird zum Corona-Hotspot

Ist der Lockdown schuld? Covid 19 breitet sich in Indien rasant aus – nun soll das Zulassungsverfahren für einen Impfstoff verkürzt werden.

„Ich bin ein wenig besorgt wegen Corona, aber ich habe keine andere Option“, sagt Guarav Chautala. Der 25-Jährige, der in der Innenstadt der indischen Hauptstadt Neu-Delhi lebt, fährt mit der Metro zur Arbeit in der Nähe vom Flughafen. Fast 170 Tage waren die Metrolinien in Indien geschlossen, um die Verbreitung des Coronavirus zu stoppen.

Jetzt steigt die Zahl der Neuinfektionen rasant, binnen 24 Stunden wurden am Sonntag 94.372 neue Fälle registriert, doch Indiens Regierung lockert die Corona-Restriktionen weiter. Mit mehr als 4,5 Millionen Fällen ist das Land inzwischen das nach den USA am schlimmsten betroffene Land weltweit.

Indiens Hauptstadt ist einer der vielen Hotspots für das Virus. Nun denkt die Regierung über ein beschleunigtes Zulassungsverfahren für einen Impfstoff nach.

Senioren und Menschen mit Risikoberufen sollen das Vakzin zuerst erhalten

„Indien erwägt die Notfallgenehmigung einer Covid-19-Impfung“, sagt Gesundheitsminister Harsh Vardhan. Vor allem Senioren und Menschen mit Risikoberufen sollten das Vakzin zuerst erhalten. Der Zeitplan für die letzte Studienphase könne durch eine Notfallgenehmigung verkürzt werden. Die Regierung betont gerne, dass die Zahl der Corona-Toten in Indien relativ niedrig ist. Bislang sind 76271 Inder an den Folgen von Covid-19 gestorben.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog . Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die Sterblichkeitsrate liegt damit bei nur 1,7 Prozent, verglichen mit etwa drei Prozent in die USA und mehr als zwölf Prozent in Italien. Doch ob diese Zahlen die Realität wirklich widerspiegeln, ist fraglich. Indiens Sterbestatistik ist schon außerhalb von Pandemie-Zeiten wenig zuverlässig. Nur etwa 85 Prozent aller Todesfälle werden überhaupt registriert.

Dazu kommt noch, dass die meisten Inder zuhause sterben und nicht in einem Krankenhaus. Lediglich bei etwa 22 Prozent der registrierten Todesfälle wird auch eine offizielle Todesursache bescheinigt. „In Delhi wird bei nur 63 Prozent der Toten ein Totenschein ausgestellt“, sagte der Mediziner Hemant Shewade vor Kurzem der Zeitung „The Hindu“. „Und das ist die Hauptstadt.“ Auf dem Lande sehe die Erfassung noch schlechter aus, so Shewade.

Dramatische Situation in Ballungsgebieten

Antikörper-Studien zeigen, dass Covid-19 in Indien offenbar weit verbreitet ist. Nach Schätzungen der obersten medizinischen Behörde „Indian Council of Medical Research“ (ICMR) hatte der Subkontinent im Mai bereits 6,4 Millionen Corona-Fälle. Eine Untersuchung legt den Schluss nahe, dass damals 0,73 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die Viruserkrankung durchgemacht hatte.

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In Ballungsgebieten sieht die Lage noch dramatischer aus. Für die Hauptstadt New Delhi legen Antikörper-Studien aus dem Juli den Schluss nahe, dass 29 Prozent der Einwohner bereits eine Corona-Infektion hatten. Besonders betroffen sind Indiens Armensiedlungen. So hatten in den Slums der Finanzmetropole Mumbai 57 Prozent der Untersuchten Antikörper gegen das Sars-Cov2-Virus.

Millionen Inder sind darauf angewiesen, für ihre Familien Geld zu verdienen.
Millionen Inder sind darauf angewiesen, für ihre Familien Geld zu verdienen.

© Arun Sankar/AFP

In Sachen Corona ist Indiens ist ein echter Außenseiter in der Region. Nachbarländer wie Sri Lanka, Nepal, Bangladesch oder Pakistan haben die Pandemie weit besser unter Kontrolle bekommen. Verglichen mit Bangladesch hat Indien 1,6 Mal mehr Fälle und verglichen mit dem Erzrivalen Pakistan 2,3 mal so viele bezogen auf die Covid-Infektionen pro eine Million Einwohner.

Am größten ist der Unterschied zu Sri Lanka – hier verzeichnet Indien 21,5 Mal mehr Corona-Fälle als der Inselstaat. Besonders erstaunlich ist der Vergleich mit Pakistan, der ärmere Nachbarn, mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur und ähnlichen Problemen wie Armut, Slums, schlechter medizinische Versorgung und nur wenigen Ärzte und Kliniken in ländlichen Gebieten.

Anders als Indien hatte Pakistan nie einen Lockdown verkündet. Während Indien im März überraschend einen extrem strikten Lockdown verhängte, ohne sich besonders um das Schicksal von Millionen Armen zu kümmern, hatte Pakistan eine gegenteilige Haltung eingenommen. Premierminister Khan erklärte damals, ein kompletter Lockdown sei in einem Land nicht möglich, in dem ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten.

Millionen Wanderarbeiter kehrten in ihre Dörfer zurück

In Indien machten sich Ende März Millionen Wanderarbeiter, die sich ohne Arbeit und Essen fanden, in ihre Heimatdörfer auf – oftmals zu Fuß, weil es weder Bus- noch Bahnverkehr mehr gab.

„Ohne Arbeit blieb Indiens Arbeitern nichts anderes übrig, als zurück in ihre Dörfer zu laufen“, erklärt der pakistanische Ökonom Anjum Atlaf dem Magazin „The Scroll“. „Aber in Pakistan war der Lockdown so lasch, dass Arbeiter immer noch Jobs finden konnten. Die Massenwanderung zurück in die Dörfer blieb aus.“

Indiens Wirtschaftswissenschaftler Kaushik Basu vertritt einen ähnliche Theorie: Indiens harscher Lockdown sei der Grund gewesen, dass das Virus sich so rasch verbreiten konnte, so Basu. „Wenn Hunderte Menschen auf engen Raum zusammen sind und einer den anderen ansteckt und diese Menschen dann hunderte Kilometer reisen; das hat die Pandemie schlimmer gemacht als sie hätte sein müssen“, schrieb Basu.

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