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Tausende demonstrieren am Freitag in Washington gegen Rassismus und Polizeigewalt.

© Eric BARADAT/AFP

Marsch auf Washington: „Nehmt euer Knie von unseren Nacken“

57 Jahre nach der „I have a dream“-Rede von Martin Luther King warten Afroamerikaner immer noch auf den Wandel. Zehntausende demonstrieren gegen Rassismus.

Der Strick baumelt um seinen Hals, fürs Foto zieht er ihn nach oben, die Geste ist eindeutig. "Ich habe mir diese Schlinge über den Kopf gezogen, um an etwas zu erinnern: Die Sätze ,Ich kann nicht atmen' und ,Nimm das Knie von meinem Nacken' sind nicht neu. Das war schon immer so."

Jay Degas steht an diesem Freitagmittag unten vor den Marmorstufen des Lincoln Memorials in Washington, auf denen gleich denkwürdige Reden gehalten werden sollen. Der 37-jährige Afroamerikaner ist extra aus Long Island/New York in der Nacht angereist, um an der Neuauflage des legendären "Marsch auf Washington" teilzunehmen. Degas, der sich selbst als "Schauspieler, Poet und Revolutionär" bezeichnet, ist hier, wie er sagt, um einen Unterschied zu machen. Damit sich etwas ändert.

Tausende sind in Washington zusammengekommen

"Wir schreiben hier Geschichte", sagt er. Unsere Vorfahren haben hart für unsere Rechte gekämpft, jetzt ist es an uns, hart zu kämpfen, um dem Rassismus ein Ende zu bereiten."

Auf die Frage, ob sich etwas geändert hat, seit auf diesen weißen Stufen genau vor 57 Jahren Martin Luther King die berühmten Worte "I have a dream" rief, sagt Degas: "Ja. Als ich aufgewachsen bin, hat meine Mutter darum gebetet, dass die Schwarzen in Amerika zusammenkommen. Heute sind hier nicht nur Schwarze, sondern auch Weiße, Latinos, Asiaten, um diesen Rassismus zu beenden." Er sei stolz, voller Liebe und Hoffnung, dass sich endlich etwas ändere, sagt er noch.

Jay Degas ist aus New York angereist. Mit einem Strick um seinen Hals demonstriert er gegen Rassismus.
Jay Degas ist aus New York angereist. Mit einem Strick um seinen Hals demonstriert er gegen Rassismus.

© Juliane Schäuble

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Wie Degas sind Tausende in der amerikanischen Hauptstadt zusammengekommen, um ihrer Trauer und ihrem Zorn darüber Ausdruck zu verleihen, dass auch im Jahr 2020 immer wieder unbewaffnete Schwarze Gefahr laufen, von weißen Polizisten brutal behandelt oder gar getötet zu werden. Auch fordern sie mehr soziale Gerechtigkeit: Durch die Coronakrise ist die strukturelle Benachteiligung von Minderheiten in Amerika zu einem großen Thema geworden. Vor allem Afroamerikaner sind überpropotional von den Folgen der Pandemie betroffen.

Masken tragen an diesem Tag im übrigen fast alle, obwohl die Temperaturen deutlich über 30 Grad liegen. Nur das mit dem Abstandhalten wird in der Menge schwer.

Auslöser für die Wiederauflage des Marschs unter dem Motto "Nehmt euer Knie von unseren Nacken" war der grausame - auf einem Video festgehaltene - Erstickungstod von George Floyd im Mai in Minneapolis (Minnesota). Er starb, weil ein weißer Polizist mehr als acht Minuten lang auf ihm kniete und selbst dann kein Erbarmen zeigte, als Floyd mehrfach "Ich kann nicht atmen" ausstieß.

Auslöser war der Tod von George Floyd

Seit das Video von Floyds Tod aufgetaucht ist, das eine Passantin aufgenommen hatte, wird in vielen Städten Amerikas protestiert. Hunderttausende rufen überall im Land "Ich kann nicht atmen" und "Black Lives Matter", schwarze Leben zählen.

Neue Proteste sind ausgebrochen, als am vergangenen Wochenende in der Stadt Kenosha (Wisconsin) ein weißer Polizist sieben Mal in den Rücken des Schwarzen Jacob Blake schoss. Blake ist seitdem von der Hüfte an gelähmt. In der Folge kam es auch zu schweren Ausschreitungen. Zwei Menschen wurden getötet, als ein weißer junger Mann, der offenbar einer Miliz angehört, die Eigentum vor Zerstörung und Plünderungen schützen wollte, um sich schoss.

Die Proteste und die Unruhen fallen in die heiße Phase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs, was eine schnelle Beruhigung unwahrscheinlich wirken lässt.

Zu den Rednern vor dem Lincoln Memorial gehören neben dem ältesten Sohn und der Enkeltochter von Martin Luther King auch Angehörige der Opfer von Polizeigewalt. So sind zum Beispiel die Eltern von Jacob Blake gekommen, der selbst in einem Krankenhaus mit den Folgen der sieben Schüsse zu kämpfen hat.

Der Vater von Jacob Blake spricht

"Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden!", sagt Blakes Vater in seiner Rede. Die Menschenmenge wiederholt diesen Satz, der schon bei Protesten in den 80er Jahren gerufen wurde. In den USA gebe es zwei Justizsysteme , sagt Jacob Blake Senior: eines für Weiße und eines für Schwarze.

"Genug ist genug", ruft auch der afroamerikanische Bürgerrechtler Al Sharpton, einer der Organisatoren der Kundgebung. "Wir könnten genauso erfolgreich sein wie andere. Aber die Gesellschaft drückt uns ihr Knie in den Nacken." Das müsse jetzt aufhören. Die Ungeduld ist bei vielen spürbar, denn die Forderungen sind seit Jahrzehnten die gleichen.

Keir Witherspoon aus North Carolina sitzt auf den Stufen und hält ein Schild in die Höhe. Darauf steht: "Meine Großeltern marschierten nach Washington. 57 Jahre später bin ich hier". Die 21-Jährige sagt: "Schon sie kamen hierher, um zu fordern, dass sich etwas ändert. Meine Oma sagt, es ist eine Schande, dass wir immer noch dafür kämpfen müssen." Was sich geändert habe, sei, dass der Protest heute viel mehr "Mainstream" sei. "Viele Prominente und Medien interessieren sich für unsere Sache. Alle posten Bilder zu Black Lives Matter und etwa von Breonna Taylor."

Wie schon ihre Großeltern vor 57 Jahren fordert auch Keir Witherspoon aus North Carolina, dass sich etwas ändert.
Wie schon ihre Großeltern vor 57 Jahren fordert auch Keir Witherspoon aus North Carolina, dass sich etwas ändert.

© Juliane Schäuble

Breonna Taylor, eine afroamerikanische Notfallsanitäterin, wurde im März in Louisville (Kentucky) in ihrer eigenen Wohnung bei einem Schusswechsel zwischen ihrem Partner und der Polizei von Polizisten erschossen. Ihr Name ist wie der anderer schwarzer Opfer auf den Protestkundgebungen im Land und auch an diesem Freitag zu hören. Er steht auf Schildern und T-Shirts, die überall zu kaufen sind. Der "Black Lives Matters"-Protest ist zu einer Bewegung geworden, die viele Junge mobilisiert.

Einen Auftritt hat auch Martin Luther Kings Enkeltochter

Den Generationswechsel macht auch Martin Luther King III deutlich, der erst einmal seine Tochter Yolanda Renee King sprechen lässt. Die Zwölfjährige zeigt, dass sie von ihrem Opa viel gelernt hat - und bringt die Menge in Stimmung. Sie verspricht: "Wir werden die Generation sein, die diesen Rassismus ein und für alle Mal beendet."

Ihr Vater fordert einen "echten, dauerhaften, strukturellen Wandel". Wie Al Sharpton gehört er zu der Gruppe von Bürgerrechtlern, die seit Jahrzehnten für Gleichberechtigung kämpft. Dazu sei es unerlässlich, dass Afroamerikaner bei der Wahl am 3. November ihre Stimme abgäben, "als würden unser Leben, unsere Existenzen und unsere Freiheiten davon abhängen" - denn das sei ja auch so.

Es ist klar, für wen sie nicht stimmen sollen: Dieser Protest richtet sich auch gegen US-Präsident Donald Trump, der gerade bei seinem Nominierungsparteitag zeigte, dass er von den Unruhen in den Städten profitieren will. Viele werfen ihm vor, diese erst noch anzuheizen.

Nach den Reden beginnt der Marsch, die Menge strömt aus - zuerst zum Martin Luther King Memorial, später auch zum Weißen Haus. Dort, nur wenige hunderte Meter vom Lincoln Memorial entfernt, sitzt Trump bei einem Termin mit Journalisten. Doch obwohl er die Protestrufe, den Ärger und die Ungeduld vernehmen muss, ignoriert er sämtliche Frage nach den Demonstranten. Er hat ganz offensichtlich nicht vor, seine Strategie zu ändern.

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