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Neuer Sozialstaat: London plant radikalen Sparkurs

Großbritannien wird mit dem Rotstift regiert. Nächste Woche wird Schatzkanzler George Osborne erläutern, wie er in den kommenden vier Jahren 83 Milliarden Pfund (97 Milliarden Euro) einsparen will.

In nur vier Jahren soll das Rekorddefizit von elf Prozent des Nationaleinkommens fast ganz verschwinden. Kein anderes Land in Europa hat sich beim Sparen so viel vorgenommen.

„Wir können uns das gesamte Gesundheitssystem bis hin zu einem neuen Stethoskop nur noch auf Pump leisten“, erklärte Premier David Cameron. In diesem Jahr bezahle das Land 43 Milliarden Pfund allein an Schuldzinsen – mehr als für das Bildungssystem. Das Defizit jetzt nicht energisch abzubauen wäre gegenüber künftigen Generationen „selbstsüchtig und unverantwortlich“. Seit Wochen streicht die Regierung Budgets zusammen. 700 geplante Schulneubauten wurden abgesagt, Kulturprojekte gestoppt, Sonderzuschüsse für schwangere Frauen und das Sparbuch für Neugeborene gestrichen. Im öffentlichen Dienst drohen Entlassungen, die Rentenbeiträge werden erhöht.

Wie viele Länder Europas gab auch Großbritannien schon vor der Bankenkrise mehr für staatliche Leistungen aus, als die Wirtschaftskraft finanzieren kann. Das Fiskalinstitut IFS errechnete, dass sich die Kosten der sozialstaatlichen Kernleistungen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit seit 1953 inflationsbereinigt verzehnfacht haben, das Nationaleinkommen aber nur um das Vierfache wuchs. Nicht nur Cameron und seine Regierung glauben, dass der Sozialstaat in der jetzigen Form nicht mehr bezahlbar ist.

Laut dem Nationalen Statistikamt gibt es fast vier Millionen Haushalte, in denen niemand arbeitet. In 352 000 Haushalten hat noch nie jemand gearbeitet. Zehntausende Kinder wachsen ohne das Vorbild arbeitender Erwachsener auf. Diese „Abhängigkeitskultur“ steht im Zentrum der Reform. In Aberdeen und Burnley liefen Pilotprojekte an, um Arbeitsunfähige zu überprüfen. Sozialminister Iain Duncan Smith glaubt, dass 20 Prozent von ihnen arbeitsfähig sind. Sein Plan: Dutzende von Sozialzuschüssen vom Wohngeld bis zum Arbeitslosengeld sollen zusammengefasst werden. Das soll Betrug erschweren und Hilfe unbürokratischer machen.

Es gibt auch einen kostspieligen Teil seiner Reform: Sozialhilfe soll bei der Rückkehr in die Arbeit nur langsam zurückgefahren und nicht sofort gestrichen werden. Der plötzliche Wegfall macht nämlich Angst vor dem Schritt in die Arbeit und führt dazu, dass sich Arbeiten oft nicht lohnt. Finanziert werden soll die Reform mit Einschnitten bei denen, die es sich eher leisten können: Kindergeld wird ab einem Einkommen von 49 000 Euro gestrichen. Studenten sollen die Kosten ihres Studiums selbst tragen. Beide Maßnahmen signalisieren das Ende „universeller“ Leistungen, die alle in den Sozialstaat einbinden. Der Wohlfahrtsstaat wird wieder, was er ursprünglich war – ein Sicherheitsnetz für die Schwächsten. Immer lauter wird dabei der Ruf nach größeren Beiträgen der Superverdiener und Banker mit ihren riesigen Boni. Cameron, fürchten viele, könnte die am stärksten treffen, die er als Wähler am meisten braucht: die hart arbeitende Mittelschicht.

Matthias Thibaut

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