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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will mit dem Corona-Notbremsengesetz bundesweit einheitliche Maßnahmen

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Lockdown kann bis Juni dauern: Merkels Corona-Bundesbremse sorgt für Zoff

Der Dauer-Lockdown kann noch acht Wochen dauern - und die von Angela Merkel gewünschten Verschärfungen per Bundesgesetz werden zum Teil als „Murks“ kritisiert.

Angela Merkel hat zuletzt einige Rätsel aufgegeben. Vor allem der SPD-Seite, weswegen Vizekanzler Olaf Scholz sich erst einmal bei der Kanzlerin erkundigen musste, wie das denn nun zu verstehen sei, dass sie den Wunsch von CDU-Chef Armin Laschet nach einem Brücken-Lockdown bekräftigt hat. Also noch eine zusätzliche Verschärfung über die geplanten Durchgriffsrechte des Bundes zur Einhaltung der Corona-Notbremse hinaus?

Einige Ministerpräsidenten waren irritiert, da man parallel an einer gesetzlichen Lockdown-Regelung über das Infektionsschutzgesetz arbeitet. Und unter den 16 Regierungschefs gibt es keine Mehrheit für einen nochmal verschärften Lockdown. Dies ist auch nicht geplant.

Schnell wurde dann klar, dass sich in diesen Tagen Parteipolitik und Pandemiebekämpfung überlappen – und wie das Verwirrung stiftet. Merkel wollte nach ihrer Kritik an Armin Laschet in der ARD-Sendung „Anne Will“ vor allem dem um die Kanzlerkandidatur kämpfenden CDU-Chef beispringen, relativierte die Kritik an ihm und verwies am Wochenende in der Klausur des Unions-Fraktionsvorstands darauf, dass Bayern – regiert von Markus Söder - sogar weiter abgewichen sei von den Coronabeschlüssen.

Auch das bayerische Landeskabinett hat vergangenen Woche beschlossen, dass bei einer 7-Tage-Inzidenz zwischen 100 und 200 Terminshopping-Angebote zulässig sein sollen; bei Vorlage eines negativen Coronatests.

Merkel will bekanntermaßen durchsetzen, dass ab einer Inzidenz von 100 Neuninfektionen je 100 000 Einwohnern in sieben Tagen Ausgangssperren von 21 Uhr bis 5 Uhr gelten, weitgehende Sportverbote und die meisten Geschäfte ohne Ausnahmen schließen müssen. Und so wird die Reform des Infektionsschutzgesetzes zusammen mit den bisher geltenden Beschlüssen von Bund und Ländern zum zentralen Instrument für die nächsten Wochen.

Ein Überblick, was jetzt auf die Bürger zukommt und was besonders strittig ist

Lockdown-Dauer: Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hat in einer stundenlangen Schalte mit den Chefs der Staatskanzleien deutlich gemacht, dass das Kanzleramt noch mit sechs bis acht Wochen an Einschränkungen rechnet, die Regierung gehe von einer verschärften Infektionslage aus, die noch so lange dauern könnte. Das könnte dazu führen, dass die wegen der Uneinigkeit zwischen Bund und Ländern per Bundesgesetz geplanten Lockdown-Maßnahmen bis maximal Mitte Juni gelten würden. Das bedeutet auch, dass Pfingsturlaube nicht möglich sein werden und bis auf erste Öffnungen der Außengastronomie viele Einschränkungen, abhängig von der Infektionslage, fortbestehen werden.  

Braun selbst betonte dazu, dass das neue Gesetz dazu beitragen soll, die Lage schneller in den Griff zu bekommen. „Das Bundesgesetz hat das Ziel, das Infektionsgeschehen zügig einzudämmen“, betonte Braun auf Twitter. 

Doch der Widerstand ist groß, der erste Entwurf sei „handwerklich schlecht gemacht“, heißt es in Länderkreisen. „Der Bund kann es nicht“, wird intern betont.

Da nun feste Grenzen per Gesetz eingezogen werden, kann ein Lockdown auch nicht einfach durch einen Beschluss von Kanzlerin und Ministerpräsidenten für beendet erklärt werden – und Klagen gegen greifende Maßnahmen wären nur beim Bundesverfassungsgericht möglich. Das Ganze ist eine Folge des Debakels um den von Merkel zurückgezogenen Oster-Lockdown und der zunehmenden Uneinigkeit zwischen Bund und Ländern.

Der weitere Fahrplan: An diesem Dienstag soll das Kabinett das Paket beschließen, am Mittwoch der Bundestag beraten - wann der Bundesrat Stellung nimmt, ist noch offen.

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Länder sehen viel Verbesserungsbedarf

Strenge Inzidenzwerte: Braun wies laut Teilnehmerangaben einen der Hauptkritikpunkte, das strenge Orientieren an Inzidenzwerten zurück: Gerade durch die Impfungen und viele bereits durchgemachte Corona-Infektionen werde der Wert eher noch wichtiger, zeige er doch, wie dynamisch sich gerade trotz dieser Entwicklungen das Pandemiegeschehen in der dritten Welle entwickle.

Nach dem Entwurf sollen auf Kreisebene beziehungsweise bei Hamburg und Berlin auf das gesamte Stadtgebiet bezogen bei einem Überschreiten der 100-er-Inzidenz an drei Tagen nacheinander Lockdown-Maßnahmen automatisch greifen. Es soll neben der nächtlichen Ausgangsbeschränkung dann verfügt werden, dass alle Geschäfte (mit den geltenden Ausnahmen etwa für Lebensmittelgeschäfte und Drogerien) sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen wieder schließen.

Die Gastronomie bleibt so oder so geschlossen, ebenso Hotels und Pensionen für touristische Übernachtungen.

Steigt der Inzidenzwert auf 200, müssen automatisch Schulen und Kitas geschlossen werden.

Und auch für Geimpfte gibt es keine Ausnahmen, was auch für sie eine weitere Einschränkung ihrer Grundrechte bedeutet.

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Widerstand gegen Ausgangssperren

Kritik an Pauschal-Regelungen: In einer dem Tagesspiegel vorliegenden Übersicht der Länderstellungnahmen gibt es teils harsche Kritik. So könne der Bund nicht in die Länderkompetenzen im Bildungsbereich eingreifen; die Kontaktregen und Regelungen zum Einzelhandel seien „in jeder Hinsicht ungenügend“ -  so brauche es Ausnahmen für Futtermittelgeschäfte und Gewerbetreibende müssten weiter in Baumärkten einkaufen können.

Und Sachsen und Schleswig-Holstein wollen erst ab einer Inzidenz von 200 verpflichtende Ausganssperren. Auch im Berliner Abgeordnetenhaus stemmt man sich gegen verpflichtende Ausgangssperren.

Zudem wird die Zulässigkeit eines generellen Beherbergungsverbotes angesichts der bereits vorliegenden Rechtsprechung hinterfragt und mehrere Bundesländer pochen auf eine Fortsetzung von Modellprojekten für mit negativen Tests abgesicherte Öffnungen; zudem auf eine Fortsetzung von Terminshoppingangeboten auch bei Überschreiten der 100er-Inzidenz.

Und Länder wie Schleswig-Holstein hinterfragen die automatischen Durchgriffsrechte des Bundes. „Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnungen für Fälle, in denen die Inzidenz den Schwellenwert von 100 überschreitet, „Gebote und Verbote (…)  zur Bekämpfung von Krankheiten, die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursacht werden, zu erlassen“, heißt es in dem Entwurf, der dem Tagesspiegel vorliegt. Zudem setzte die SPD-Seite eine Testpflicht für Unternehmen durch. Mit einem verpflichtenden Angebot von mindestens einem Test pro Arbeitnehmer in der Woche, das soll nun über die Arbeitsschutzverordnung kommen, da bisher erst rund 60 Prozent der Unternehmen solche Angebote machen würden.

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Die große Leere: Die Uneinigkeit zwischen Bund und Ländern wird zur Bürde in der dritten Welle.
Die große Leere: Die Uneinigkeit zwischen Bund und Ländern wird zur Bürde in der dritten Welle.

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Gesetz könnte erst Ende April in Kraft treten

Länder-Mitsprache: Sicher, die bisherigen Abweichungen von der Anfang März vereinbarten Corona-Notbremse sind teils gravierend. Aber dass der Bund das Gesetz nur als ein Einspruchsgesetz auf den Weg bringen will. sorgt für Widerstand. das sei angesichts der weitreichenden Eingriffe in die Bundesländer-Angelegenheiten nicht akzeptabel. Bei einem Einspruchsgesetz muss der Bundesrat nicht formal zustimmen und könnte nur mit einer Mehrheit versuchen, den Vermittlungsausschuss anzurufen – in jedem Fall braucht es eine Sonder-Bundesratssitzung – aber bisher gibt es keinen Termin, es könnte sein, dass die Aktualisierung des Infektionsschutzgesetzes erst Ende April in Kraft tritt. Eine Mehrheit im Bundestag gilt dagegen als einfachere Hürde, Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) hat im Zusammenspiel mit Kanzlerin Angela Merkel dafür gesorgt, dass die Koalitionsfraktionen das meiste so mittragen können.

Grünen-Chef Robert Habeck kritisiert, dass das Gesetz viel zu spät komme und Schwachstellen habe. „Es ist fast zynisch spät, dass die Bundesregierung jetzt endlich so ein Gesetz beschließen will“. Die Grünen befürchten durch die Konzentration auf den Inzidenzwert von 100 eine „Pendelbewegung zwischen 90 und 110“ mit Öffnungen und Schließungen. Außerdem fehle es an einer Differenzierung der Möglichkeiten, die durch Tests möglich seien und der Aspekt von Rechten für Geimpfte.

Aerosolforscher kritisieren: Nicht draußen, drinnen lauere die Gefahr

Kritik der Wissenschaft: Die von führenden Virologen unterstützte „No-Covid“-Initiative fordert zur Vermeidung abendlicher Treffen in Innenräumen eine Ausgangssperre sogar von 20 bis 06 Uhr. „Wenn sich Kontakte in Innenräumen nicht vermeiden lassen, sollten alle Beteiligten Masken tragen und regelmäßig und großzügig lüften“, wird in einem neuen Papier betont. Und alle touristischen Reisen im In- und Ausland seien einzustellen.

Die Intensivstationen würden sich rasant füllen, derzeit seien über 4.500 Patienten in intensivmedizinischer Behandlung. Der Altersdurchschnitt liege hier wie zuvor schon in England und anderen Ländern, mit etwa 50 Jahren ca. 10-15 Jahre unter dem Altersdurchschnitt der Patienten der vorherigen beiden Wellen, die Langzeitschäden würden immer noch stark unterschätzt.

In einem offenen Brief der führenden Aerosolforscher, unterzeichnet unter anderem vom Christof Asbach, Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, wird zugleich eine oft viel zu holzschnitzartige Politik kritisiert, denn draußen gebe es kaum Übertragungen. „Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass DRINNEN die Gefahr lauert“, heißt es in dem an Merkel und die Ministerpräsidenten gerichteten Brief.

„In den Wohnungen, in den Büros, in den Klassenräumen, in Wohnanlagen und in Betreuungseinrichtungen müssen Maßnahmen ergriffen werden.“ Die andauernden Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder das Radfahren hätten sich längst als kontraproduktiv erwiesen. „Wenn unseren Bürgerinnen und Bürgern alle Formen zwischenmenschlicher Kontakte als gefährlich vermittelt werden, verstärken wir paradoxerweise die überall erkennbare Pandemiemüdigkeit. Nichts stumpft uns Menschen bekanntlich mehr ab als ein permanenter Alarmzustand.“

Wer sich zum Beispiel zum Kaffee in der Fußgängerzone treffe, müsse niemanden in sein Wohnzimmer einladen. „Dort ist die Einhaltung der bekannten Hygieneregeln zu erwarten, zu Hause dagegen nicht.“

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