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Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde am Tatort eines Brandanschlags auf eine Synagoge in Berlin.

© Reuters/Fabrizio Bensch

Lagebild Antisemitismus: „Kaum eine Woche ohne Neonazi-Schmierereien“

Die Amadeu Antonio Stiftung legt ein Lagebild Antisemitismus vor, unterstützt vom Bundesbeauftragten Felix Klein. Fünf zentrale Erkenntnisse.

Das erinnerungspolitische Klima in Deutschland kippt, der gesellschaftliche Diskurs verschiebt sich massiv und der Antisemitismus erstarkt. Das geht aus dem Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung hervor, das am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

Das Lagebild wurde unterstützt von Felix Klein, dem Beauftragten der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus und gefördert vom Bundestag.

Einleitend wird die Lage in Deutschland nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel thematisiert. Die Geschehnisse hätten „drastische Auswirkungen auch für Jüdinnen*Juden in Deutschland“, heißt es. Die Lage werde zunehmend bedrohlicher. Erinnert wird beispielsweise daran, dass kürzlich vor dem Auswärtigen Amt in Berlin „Free Palestine from German guilt“ skandiert wurde.

„Die Vorfälle machen deutlich, wie das Gedenken an den Nationalsozialismus angegriffen wird, um gegen den Staat Israel zu agitieren. Israelbezogener Antisemitismus und Post-Shoah-Antisemitismus gehen oft Hand in Hand“, erklären die Verfasser der Evaluation.

Schwerpunktmäßig widmet sich das Lagebild aber dem Antisemitismus von Rechts. Dazu werden fünf Kernbeobachtungen festgehalten.


1 Deutungskampf von Rechtsextremen

Rechtsextreme führten einen Deutungskampf um Nationalsozialismus, die Shoah und den Zweiten Weltkrieg, heißt es im Bericht – etwa mit dem Ziel, Alliierte zu Tätern und Deutsche zu Opfern zu machen. „Der Deutungskampf trägt zur sukzessiven Verschiebung des Mach- und Sagbaren bei“ und werde mittlerweile ganz offen geführt.

Zitiert wird der AfD-Politiker Björn Höcke. In einer Rede im Juni 2023 habe dieser die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als „singulären Zivilisationsbruch“ bezeichnet. Das sei offensichtlich eine Anspielung auf die Singularitätsthese der Shoah: „In der Umdeutung sind die Alliierten, nicht die Deutschen, die Verantwortlichen eines einzigartigen Zivilisationsbruchs.“

Auch die Debatte um den Fall Aiwanger und antisemitische Flugblätter sei ein Beispiel dafür, wie sich der politische Diskurs bereits verschoben habe. Anstelle politischer Konsequenzen habe Aiwanger aus den eigenen Reihen reichlich Unterstützung erfahren.


2 Eigene Gedenkkultur der Rechtsextremen

Rechtsextreme würden ihr eigenes Gedenken pflegen und Gedächtnisstätten betreiben, heißt es im Lagebild. Gedenk-, Jahres- und Todestage würden genutzt, um die eigene Ideologie zur Schau zu stellen. Zum Beispiel hätten sich im Februar 2023 knapp tausend Neonazis an einem Marsch am Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg beteiligt.


3 Thüringen als Beispiel

„Die Angriffe auf Gedenkstätten nehmen zu. Das erinnerungspolitische Klima kippt“, heißt es im Lagebild. Der Post-Shoah-Antisemitismus steige rapide an, dafür sei Thüringen ein gutes Beispiel.

Für das Jahr 2022 seien 87 Prozent der von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen gemeldeten Vorfälle dem Post-Shoah-Antisemitismus zuzuordnen. Die Shoah werde verharmlost, geleugnet oder verherrlicht, Stolpersteine würden „mit erschreckender Regelmäßigkeit“ beschädigt. Ein weiteres Beispiel: Im März 2023 sei eine Stele zur Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 mit den Wörtern „Völkermörder Israel“ beschmiert worden. 

Besonders dramatisch sei die Lage für die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. „Wir sind es leid. Mittlerweile vergeht kaum eine Woche ohne Neonazi-Schmierereien in der Gedenkstätte Buchenwald“, wird ein Tweet der Stiftung Gedenkstätten aus dem September 2023 zitiert. „Das erinnerungspolitische Klima in Deutschland kippt.“ Dieser Wertung schließt sich die Amadeu-Antonio-Stiftung als Verfasserin des Lagebilds an.


4 Angriffe auf die Erinnerung

Nicht nur in Thüringen, sondern bundesweit würden Angriffe auf die Erinnerung zunehmen, heißt es im Lagebild. Aufgezählt werden einzelne Fälle, um das Problem zu illustrieren. Darunter sind zum Beispiel Schmierereien, Diebstahl von Informationstafeln, das Aufstellen einer Gipsfigur mit der Aufschrift „Tötet alle Juden!“ an der KZ-Gedenkstätte Schillstrasse in Braunschweig oder die Beschädigung von Stolpersteinen. Das Fazit: Orte zum Gedenken an die Opfer der Shoah seien inzwischen „Dauerzielscheibe“ antisemitischer Straftaten.


5 Problematische Debatten

Es würden in Deutschland Shoah-Debatten geführt, die die Bekämpfung von Antisemitismus erschweren, heißt es im Lagebild. Denn die Verharmlosung von israelbezogenem Antisemitismus sei regelmäßig Teil dieser Debatten.

Namentlich kritisiert wird der Historiker Dirk Moses, dessen Schriften immer wieder für Kontroversen sorgen. Moses habe in seiner Schrift „Der Katechismus der Deutschen“ in harschem Tonfall die deutsche Erinnerungskultur angegriffen und lehne die These, die Shoah sei ein einzigartiger Zivilisationsbruch, ab. Das erschwere den Kampf gegen israelbezogenen Antisemitismus, meint die Amadeu Antonio Stiftung.

Außerdem wurden am Montag neue Zahlen zu antisemitischen Straftaten bekannt: Schon vor der jüngsten Eskalation im Nahen Osten sind die Fallzahlen in Deutschland nach oben gegangen.

Wie das Bundesinnenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Linken mitteilte, wurden im Juli, August und September 540 antisemitisch motivierte Straftaten polizeilich erfasst. In den ersten drei Monaten des Jahres waren es erst 379 Fälle, im zweiten Quartal 446. Das zeigt eine Auflistung, die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) im Internet veröffentlicht hat. Zuerst hatte die „Rheinische Post“ darüber berichtet. (mit dpa)

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