zum Hauptinhalt
Russlands Präsident Wladimir Putin mit Verteidigungsminister Sergei Schoigu.

© dpa

Krisenszenarien für Bundesregierung: Wenn sich das System Putin destabilisiert

Terroranschläge, Finanzcrashs, Naturkatastrophen: Die Stiftung Wissenschaft und Politik berät Bundestag und Regierung auch mit Krisenszenarien.

Februar 2016: In den USA wird erneut ein schwarzer Jugendlicher bei einer Festnahme von Polizisten getötet. Das Video der Festnahme verbreitet sich rasend schnell über das Internet. In der Folge brechen massive Unruhen aus. Präsident Barack Obamas Reaktionen sowie die seiner republikanischen Gegner sind vom Wahlkampf beeinflusst und extrem, die Vereinigten Staaten schlittern in eine Staatskrise mit weltweite Folgen.

Oktober 2017: Ein halbes Jahr vor der russischen Präsidentschaftswahl, bei der sich Wladimir Putin ein weiteres Mal im Amt bestätigen lassen will, fordern die Gouverneure dreier östlicher Regionen mehr Autonomie vom Zentrum mit dem Ziel, eine Sonderwirtschaftszone zu errichten. Die Führung in Moskau reagiert drastisch, doch in den Provinzen verfangen Strafmaßnahmen und Propaganda nicht. Die Ereignisse im Osten destabilisieren das ganze Land und das System Putin.

Plötzliche Staatskrisen, noch dazu in Russland oder den Vereinigten Staaten, sind Überraschungen, die man in der Politik möglichst vermeiden möchte. Gleichzeitig kann keine Bundesregierung auf alles, was kommen mag, vorbereitet sein. Dazu kommen ein beschleunigter Politikbetrieb und die öffentliche Erwartung an rasche Antworten, welche oft nur noch auf das Naheliegende blicken lassen. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist: offen bleiben für das Unerwartete. Die dramatischen Entwicklungen in Russland und den USA sind Szenarien, die Wissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin zu diesem Zweck entworfen haben. Sie sind Teil der sogenannten „Foresight-Studie“, die die Stiftung an diesem Mittwoch zum dritten Mal seit 2011 vorstellen wird. „Foresight“ bedeutet „Vorausschau“. „Unerwartet, überraschend, ungeplant“ ist der Titel, der Programm ist für die acht Szenarien, die darin beschrieben werden. Jeder Fall ist plausibel, ebenso die Folgen für die Außen- und Sicherheitspolitik. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, mit der das Szenario eintreten wird, spielt dagegen keine Rolle. Es geht darum, sensibel zu sein dafür, dass dem eigenen Horizont Grenzen gesetzt sind.

Auch weltbewegende Krisen müssen keine Überraschungen sein

Denn das zeigt die Praxis immer wieder: Selbst weltbewegende Ereignisse wie der Arabische Frühling, die Anschläge vom 11. September 2001 oder der Fall der Mauer trafen die jeweiligen Politiker unerwartet und unvorbereitet. Dabei hätten es keine Überraschungen sein müssen, argumentiert Lars Brozus, der die Foresight- Studie herausgegeben hat. Vorzeichen waren da, wurden aber falsch gewichtet oder übersehen. Die Aufmerksamkeit dorthin lenken, wo sie gerade fehlt, und einen Raum geben, in dem über Ungeplantes nachgedacht werden kann, ohne sofort beschlussfähig sein zu müssen, ist deshalb Politikberatung nach dem Selbstverständnis der SWP. Direktor Volker Perthes, der die Stiftung selbstbewusst den „Platzhirsch“ unter den inzwischen zahlreichen Instituten zur Politikberatung in Berlin nennt, versteht das auch als ein Alleinstellungsmerkmal, den „Kunden“ aus Fraktionen, Parteien und Ministerien eine Möglichkeit zur Diskussion und Beratung ohne mediale Begleitung zu garantieren. Zusammen mit der wissenschaftlichen Arbeit, die regelmäßig evaluiert wird, sowie der Finanzierung durch den Bundeshaushalt, welche die SWP unabhängig von Privatinteressen hält.

Die Arbeit der rund 50 festangestellten Wissenschaftler und jährlich etwa 70 Projektmitarbeiter, Gastwissenschaftler und Praktikanten schlägt sich in zahlreichen Studien aktueller Ereignisse und Analysen mit konkreten Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung nieder sowie in Beratungsgesprächen und Konferenzen. Seit die SWP vor rund 15 Jahren vom beschaulichen Ebenhausen bei München nach Berlin gezogen ist, verlassen sich auch viele Journalisten auf die Expertise der SWP-Mitarbeiter. Die ist im Übrigen weltweit gefragt. Volker Perthes selbst ist vom UN-Sondergesandten für Syrien, Staffan de Mistura, in die Vorbereitung einer Friedenskonferenz zwischen der Regierung in Damaskus und Oppositionsgruppen eingebunden worden. Perthes leitet in dem Prozess die Arbeitsgruppe „Militär, Sicherheit und Terrorismusbekämpfung“.

"Warum erzählt ihr uns jetzt Geschichten?"

„Foresight“ wiederum ist im Rahmen der regulären Arbeit des Thinktanks ein Ausnahmeformat. Entsprechend habe es „am Anfang auch Missverständnisse“ gegeben, sagt Perthes. Aus Bundestag und Ministerien kam bei der ersten „Vorausschau“ 2011 die Frage: „Warum erzählt ihr uns jetzt Geschichten?“ Inzwischen aber hat sich die Arbeit mit Szenarien etabliert, auch im Auswärtigen Amt beschäftigt sich seit März die neu gegründete „Abteilung S“ explizit mit „Frühwarnung und Szenarienplanung“. Lars Brozus berichtet, „wie groß das Interesse“ an der Veranstaltung zur Studie an diesem Mittwoch im Vorfeld sei. Ähnliches ist aus dem Außenministerium zu hören, die Foresight-Szenarien seien „immer spannend“, sagt ein Diplomat. Interessant wäre, wie jetzt der Beitrag von Ronja Kempin und Barbara Lippert ankommen wird. Die Autorinnen werten darin den Europäischen Auswärtigen Dienst zum 1. September 2025 „zu einem vollwertigen Ministerium“ auf. Damit werden dann alle deutschen Diplomaten zu europäischen, das Auswärtige Amt verschwindet. Zu dem Zeitpunkt sollte das dann keine Überraschung mehr sein.

Nuklearkrise, Flüchtlinge, Hungersnot, Erdbeben: Weitere Krisenszenarien

Situation Ukraine: Nuklearer Zwischenfall

Im Juli 2016 stürzt eine russische Tupolew Tu-22 auf dem Weg vom Nuklearwaffendepot Belgorod-22 zur Halbinsel Krim in der Ostukraine ab. Wie sich herausstellt, hatte die Maschine vier taktische Atomsprengköpfe an Bord, nahe der Stadt Charkiw wird erhöhte radioaktive Strahlung gemessen. Oliver Meier und Marcel Dickow beschreiben, wie sich die Lage zwischen Russland und den USA zuspitzt. Angesichts der Möglichkeit einer nuklearen Eskalation erarbeiten sie Maßnahmen, die jetzt im Nato-Rahmen präventiv ergriffen werden können.

Situation Deutschland: Nach der Flüchtlingskrise

Steffen Angenendt, Anne Koch und Amrei Meier blicken auf Deutschland im Jahr 2020 und stellen fest: Die Flüchtlingskrise und Schwierigkeiten der Jahre 2015/16 sind überwunden. Im fiktiven Rückblick erläutern die Autoren, was zur konstruktiven Lösung für alle Beteiligten geführt hat. So werden konkrete Entlastungen des Asylsystems durchexerziert sowie Maßnahmen zur effektiven Integrationspolitik vorgestellt. Bisherigen Verteilungsschlüsseln in EU und Deutschland werden neue Modelle gegenübergestellt.

Situation Nordafrika: Bienentod und Hungersnot

Aufgrund eines Bienensterbens ungeahnten Ausmaßes fallen 2020 in Nordafrika in weiten Gebieten die Obst- und Gemüseernten extrem schlecht aus. Damit brechen die zwei Hauptexportgüter einer ohnehin labilen Region weg, was unter anderem zu neuen Flüchtlingsbewegungen führt. Das Bienensterben hat ein Parasit ausgelöst, der über einen Blumenhändler eingeführt wurde. Bettina Rudloff und Nils Simon gehen auf die Gefahren durch eine „bestäubungsbedingte Krise“ ein, deren Folgen auch die EU deutlich spüren würde.

Situation Japan-China: Es bebt wieder

Japanische Experten bewerten die Wahrscheinlichkeit für ein Beben der Stärke 7,0 oder höher für die Zeit bis 2016 auf 70 Prozent, bis 2041 auf 98 Prozent. Christian Becker, Hanns Günther Hilpert, Hanns W. Maull und Alexandra Sakai beschreiben die Folgen eines neuen Erdbebens in Japan im Juni 2016, das auch aufgrund vernachlässigter Vorsorgemaßnahmen verheerend ausfällt. China nutzt Tokios Schwäche, um in die umstrittenen Hoheitsgewässer um die Senkaku-Inseln einzudringen. Eine internationale Krise bahnt sich an.

Die vollständige Foresight-Studie "Unerwartet, überraschend, ungeplant" können Sie hier lesen.

Ruth Ciesinger ist Redakteurin des Tagesspiegels und hat von 2010 bis Ende 2011 für die SWP gearbeitet.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 24. November 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false