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Ein Soldat der Söldner-Gruppe Wagner bei seinem Einsatz in der Region Donezk.

© Foto: Imago/SNA

Kriminelle in der Söldner-Gruppe Wagner: Bis zu 11.000 Ex-Gefangene an der Front – wie das System funktioniert

Nicht nur die Teilmobilisierung soll Putins Soldatenmangel ausgleichen. Auf der Suche nach neuen Soldaten klappert die Wagner-Gruppe systematisch Gefängnisse im Land ab.

Inmitten eines grauen Gefängnisinnenhofs umringt von Insassen steht Jewgeni Prigoschin. Zu sehen ist die Szene in einem Video, das bereits in der vergangenen Woche in den sozialen Netzwerken vielfach geteilt wurde.

Experten und Analysten halten es mit großer Wahrscheinlichkeit für echt. Aufgenommen wurde es offenbar in einer Strafkolonie in Yoshkar-Ola, einer Stadt in der Republik Mari El, etwa 650 Kilometer östlich von Moskau.

Prigoschin ist nicht irgendwer, er zählt zu Putins engsten Vertrauten und soll „Besitzer“ der Söldner-Gruppe Wagner sein, die seit Kriegsbeginn auf russischer Seite kämpft. Den Gefangenen im Innenhof hat Prigoschin ein Angebot mitgebracht. „Fünf Minuten“ haben sie Zeit, sich zu entscheiden: Straffreiheit für einen Kampfeinsatz in der Ukraine.

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Immer wieder wurde im Verlauf des Krieges berichtet, dass die Personalnot Putins Armee massive Probleme bereitet. Militärexperten rechnen für jeden Gefallenen in der Regel nochmal mindestens die doppelte Zahl an Verletzten hinzu – ein Drittel davon so schwer, dass sie nicht mehr an die Front zurückkehren können.

Der britische Geheimdienst geht inzwischen von rund 80.000 getöteten und verletzten russischen Soldaten aus. Mit rund 190.000 Soldaten soll Russland die Invasion begonnen haben.

Ein Mann, bei dem es sich vermutlich um Jewgeni Prigoschin handelt, spricht zu den Insassen eines russischen Gefängnisses

© Twitter

Um die Personalnot zu lindern, hat Russlands Präsident Putin am Mittwochmorgen auch eine Teilmobilmachung verkündet. Rund 300.000 Männer im wehrfähigen Alter sollen davon laut dem russischen Verteidigungsminister Sergei Shoigu betroffen sein.

Die Zahl der rekrutierten Häftlinge mag dagegen klein wirken, allerdings sind sie für die direkten Kämpfe an der Front, die häufig von Söldnern und selbsternannten Separatisten geführt werden, durchaus bedeutsam. Entsprechend wichtig ist die Rekrutierung der Gefangenen.

Wohl auch deswegen wirkt es auf der Videoaufnahme so, als wüsste Prigoschin zwischen den Gefängnismauern genau, was zu tun ist, als würde er nicht zum ersten Mal vor einer Gruppe von Schwerverbrechern sprechen.

„Wen brauchen wir? Wir brauchen nur ‚Schocktruppen‘“, sagt er und meint damit Soldaten, die an der Spitze eines Angriffs stehen und selbst bei erfolgreichen Operationen schwere Verluste hinnehmen müssen. „Sechzig Prozent meiner Leute sind Schocktruppen, und ihr werdet einer von ihnen sein“, fügt er an.

Bei potenziellen Rekruten, die Sexualverbrechen begangen hätten, sei man vorsichtig, „aber wir verstehen, dass Fehler passieren“. Zudem müssten Gefangene zwischen 22 und 55 sowie bei guter Gesundheit sein, um sich anstellen zu lassen. Zum Schluss der wichtigste Satz: „In sechs Monaten kehrt ihr mit einer Begnadigung nach Hause.“

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Die Methode, mit der Wagner vorgeht, ist einfach. Die Söldner-Gruppe bietet perspektivlosen Gefangenen einen „Ausweg“ aus der Haft – direkt durch die gefährlichsten Kampfzonen an der Front.

„Ich habe noch 11 Jahre im Gefängnis vor mir. Entweder ich sterbe in diesem Drecksloch oder ich sterbe (an der Front), das ist nicht so wichtig. Zumindest werde ich die Chance haben, für meine Freiheit zu kämpfen. Wir alle vergleichen es mit russischem Roulette“, zitiert die britische Zeitung „The Guardian“ einen Häftling aus einem weiteren Gefängnis, in dem Wagner nach neuen Soldaten suchte.

Ein Wagner-Soldat feuert auf ukrainische Stellungen.

© IMAGO/SNA

Insgesamt interviewte die Zeitung vier Gefängnisinsassen. Neben der Begnadigung soll jedem von ihnen zudem ein Gehalt von 100.000 Rubel (rund 1.600 Euro) pro Monat versprochen worden sein.

Mittlerweile häufen sich die Indizien, dass Wagner-Verantwortliche systematisch russische Gefängnisse abklappern. Bereits Anfang Juli wurden erste Videos mit ähnlichen Rekrutierungsszenen aus anderen Haftanstalten publik. Wie viele Insassen bisher rekrutiert wurden, lässt sich nicht genau sagen.

Ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters am Montag von 1500 verurteilten Straftätern. „Unsere Informationen deuten darauf hin, dass Wagner in der Ukraine hohe Verluste zu beklagen hat, insbesondere und wenig überraschend unter jungen und unerfahrenen Kämpfern“, sagte der Beamte.

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Andere wiederum gehen von einer deutlich höheren Zahl aus. So wie Olga Romanova. Im Gespräch mit dem „Guardian“ schätzt die Leiterin der Nichtregierungsorganisation „Jailed Russia“, die sich für die Rechte von Gefangenen einsetzt, dass sich bereits 11.000 Insassen für einen Kampfeinsatz in der Ukraine gemeldet hätten. „Der Prozess beschleunigt sich. Allein heute erhielten wir Berichte über 600 Gefangene, die aus Nischni Nowgorod transportiert werden“, sagt sie.

Sollten ihre Schätzungen stimmen, würde es sich um eine durchaus beachtliche Zahl an Rekruten handeln. Zum Vergleich: Der gesamte pro-russische Kampfverband der unrechtmäßig annektierten Region Luhansk wurde zu Kriegsbeginn auf eine ähnliche Größe geschätzt.

Der militärische Wert solcher unausgebildeten Soldaten wird von Experten unterdessen als gering eingestuft. Quasi als Kanonenfutter werden sie dazu genutzt, um ukrainischen Stellungen ausfindig zu machen – und in vielen Fällen zu sterben.

Der renommierte Militärexperte Rob Lee sagte im „Guardian“, dass Moskaus jüngste Rekrutierungsoffensive in den Gefängnissen kurzfristig „einige Löcher stopfen“ könnte, aber wenig dazu beitragen würde, Russlands „kritischen“ Mangel an Soldaten zu beheben. Dass auch Putin seiner Gefangenen-Armee nicht zutraut, den Kriegsverlauf in der Ukraine maßgeblich zu beeinflussen, zeigt die Ausrufung der Teilmobilisierung am Mittwoch.

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