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In vielen Städten liegt die Sieben-Tage-Inzidenz noch über 50.

© Imago Images/Rüdiger Wölk

Großstädte widersprechen Merkel: Kontaktverfolgung auch bei Inzidenz über 50 möglich

Ob Köln, München, Bremen oder Leipzig: Die Bürgermeister sehen ihre Gesundheitsämter bei der Ermittlung von Kontakten Infizierter gut gerüstet.

Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz gilt in der Pandemie als wichtiger Wert: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder begründen den Lockdown in der Coronavirus-Pandemie unter anderem damit, dass die Gesundheitsämter die Kontakte von Infizierten nicht mehr nachverfolgen könnten, wenn die Zahl der Neuansteckungen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen über 50 liegt. Dem widersprechen nun mehrere Oberhäupter deutscher Großstädte.

„So pauschal kann man das nicht sagen“, sagte Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) der „Welt am Sonntag“ (WamS). In Köln sei man trotz Werten von über 50 seit Monaten in der Lage, sowohl die positiv Getesteten als auch die Kontaktpersonen „innerhalb von 24 Stunden zu kontaktieren und Quarantäneanordnungen zu verhängen“. Aktuell liegt der Wert in der Domstadt nach Angaben des Landeszentrums Gesundheit NRW bei rund 87.

Positive Meldungen auch aus Berliner Bezirken

Auch Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) sagte demnach, in seiner Stadt, wo die Inzidenz zurzeit rund 71 beträgt, könnten alle Kontakte nachverfolgt werden. Ähnliche Angaben machten dem Blatt zufolge die Rathäuser in München, Leipzig und Düsseldorf (51). München hatte in den vergangenen Tagen als erste deutsche Millionenstadt den Wert von 50 unterschritten. Die Inzidenz lag dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge am Wochenende bei rund 45.

In Berlin ist die Lage etwas unübersichtlicher, da die Kontaktnachverfolgung von zwölf verschiedenen Gesundheitsämtern durchgeführt wird. Aus Spandau, wo die Infektionszahlen im Oktober und November des vergangenen Jahres exponentiell angestiegen waren, berichtet Amtsärztin Gudrun Widders, dass inzwischen das ganze Bezirksamt mithelfen muss. „Im Straßenbauamt, im Grünflächenamt, im Jugendamt und fast überall sitzen jetzt Teams, die Kontakte nachverfolgen, wenn es nötig ist“, sagte sie am Sonntag dem Tagesspiegel.

Kritik an Flickenteppich in der Hauptstadt

Bis Anfang November, sagte Widders, sei man nicht hinterhergekommen, aber mit diesem „besonderen Weg“ habe man die Verfolgung der Kontakte innerhalb von 24 bis 48 Stunden wieder bewältigen können – bei Inzidenzwerten von zu dem Zeitpunkt mehr als 300. Inzwischen liegt der Wert Daten des Landesamts für Gesundheit und Soziales zufolge bei rund 76 (Stand 6. Februar). Auch der Gesundheitsstadtrat aus Charlottenburg-Wilmersdorf Detlef Wagner (CDU) sagte: „Wir sind bei einer knappen 80er-Inzidenz und es dauert etwa einen Arbeitstag, bis wir alle Kontaktpersonen kontaktiert haben – nur am Sonntag nicht, da ist es etwas dünner besetzt.“ Seine Beobachtung allerdings: „Wenn die Kontaktverfolgung in andere Bezirke hineinreicht, dauert es manchmal deutlich länger. Es ist ein Flickenteppich.“

Eine Übersicht über die Lage in ganz Berlin war von der Gesundheitsverwaltung am Sonntag zunächst nicht zu bekommen. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) sagte dem Tagesspiegel: „Die Corona-Ampel in Berlin hat den Grenzwert einer 30er-Inzidenz um auf Rot zu springen. Auch wenn die Gesundheitsämter sich personell verstärkt haben, bereitet mir die aktuelle Lage und hier besonders die Mutationen noch große Sorgen.“

IT-Lösungen sichern Kontaktnachverfolgung

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy, verweist in der WamS auf die schnelle Einführung von IT-Lösungen in Großstädten: „Die dortigen Lösungen laufen rund und befähigen die Gesundheitsämter dieser Städte schon jetzt, auch bei einer Inzidenz weit über 50 die Kontaktnachverfolgung zu gewährleisten. Das wird nur in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.“ Allerdings können Dedy zufolge bundesweit nicht alle Ämter bei hohen Inzidenzen so umfassend agieren.

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker.
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

© Imago Images/Political-Moments

Eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 bestimmt seit Wochen die Debatte. Inzwischen gibt es sogar Stimmen, die – unter anderem wegen der noch ansteckenderen Virusvarianten – einen noch niedrigeren Wert fordern, bevor Lockerungen der Corona-Auflagen in Betracht gezogen werden könnten. Am Mittwoch soll bei einem Bund-Länder-Gipfel über den weiteren Kurs entschieden werden.

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Gesundheitsminister Jens Spahn (CSU) hatte bei einer Pressekonferenz am Freitag gesagt, es sei erfreulich, dass die Zahl der aktiven Infektionsfälle erstmals seit dem 4. November wieder unter 200.000 liege und die Sieben-Tage-Inzidenz bundesweit im Schnitt unter 80 gesunken sei. Die Zahlen müssten aber noch weiter runter, sagte Spahn – „auch deutlich unter 50“.

Forscher fordern Inzidenz deutlich unter 50

Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach plädierte bereits vor Tagen für einen deutlich niedrigen Wert. „Ich werde für Fortsetzung des Lockdowns argumentieren“ – bis eine Inzidenz von 25 erreicht sei. Die Forscherin Viola Priesemann hält sogar weitere Halbierungen der Ansteckungsraten für nötig: auf 50, 25 und schließlich 12,5.

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Ab dem bisherigen Ziel 50 würden dann ihrer Rechnung nach zwei bis vier weitere Wochen vergehen, bis über ein bisschen mehr Normalität nachgedacht werden könne. Es sei ein Weg, der sich für alle lohne, wirbt die Forscherin für ihre Theorie. Das sei wie bei einem Feuer. Entweder sei es unter Kontrolle – oder eben nicht. „Eine halbe Kontrolle gibt es bei Feuer nicht.“

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Auch die Virologin Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum hält nichts von einer Lockerung der Corona-Maßnahmen Mitte Februar. Die Hoffnung, man könne „mit einer Inzidenz von knapp unter 50 Maßnahmen lockern und dabei das Virus im Zaum halten“, sei „fatal“, sagte sie dem „Spiegel“. „Mit diesem Kurs haben wir keine Chance. Die Zahlen würden sofort wieder steigen.“

Virologin warnt vor ständig neuen Lockdowns

Das wiederum werde zu ständig neuen Lockdowns noch „bis ins Jahr 2022 hinein“ führen, warnte die Expertin, die auch schon Bund und Länder zur Frage der Corona-Politik beraten hat. Brinkmann verwies auf die Kombination aus langwieriger Impfkampagne und mutierten Varianten des Coronavirus.

„Bis September ist vielleicht die Hälfte der Bevölkerung geimpft, wenn alles top läuft“, sagte sie. Ohne harten Lockdown werde das unweigerlich dazu führen, dass sich die neuen, ansteckenderen Mutanten vorher durchsetzen. „Wir kriegen niemals genügend Menschen geimpft, bevor die Mutanten durchschlagen“, sagte die Virologin. „Dieser Wettlauf ist längst verloren.“

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Die Sicht der Bundesbürger auf den Lockdown variiert in Umfragen leicht, allerdings verlieren offenbar immer mehr die Geduld. So spricht sich inzwischen eine Mehrheit der Menschen in Deutschland für eine Öffnung von Schulen, Geschäften und Restaurants ab Mitte Februar aus. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag der „Bild am Sonntag“ hervor. 78 Prozent der Befragten sind demnach für eine Öffnung von Schulen und Kitas, 20 Prozent dagegen.

Akzeptanz der Corona-Maßnahmen sinkt

Für eine Öffnung des Einzelhandels sind 73 Prozent der Befragten (25 Prozent dagegen), für eine Öffnung von Hotels und Gaststätten 62 Prozent (34 Prozent dagegen). Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent plädierte zudem dafür, Sportstätten wieder zu öffnen (46 Prozent dagegen). Lediglich Kinos, Theater und Museen will demnach eine Mehrheit von 56 Prozent geschlossen halten, 41 Prozent sind auch hier für eine Öffnung.

Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur zufolge sind 37 Prozent für eine Verlängerung der bisherigen Einschränkungen über den 14. Februar hinaus, weitere 13 Prozent sind sogar für eine Verschärfung. Dagegen sind 30 Prozent für eine Lockerung und 13 Prozent für eine komplette Rückkehr zur Normalität. Sieben Prozent machten keine Angaben. Die Akzeptanz der ergriffenen Maßnahmen schwindet allerdings: Anfang Januar – vor der letzten Verlängerung des Lockdowns – waren noch fast zwei Drittel (65 Prozent) für eine Beibehaltung oder Verschärfung der Maßnahmen.

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