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Flüchtlinge in Italien: Kein Land in Sicht

Tausende Flüchtlinge aus Nordafrika erreichen Lampedusa. Ohne Papiere, mit einem Traum vom besseren Leben in Europa – wo niemand sie will. Die kleine Insel aber ist längst Teil einer Migrationsindustrie, von der viele Einheimische leben

Seit Tagen ist das Wetter schlecht, und das alte Fährschiff kann nicht anlegen. Die Regale der Supermärkte sind fast leer, der Metzger weiß nicht mehr, wie er die Männer der Luftwaffe und die Sicherheitskräfte mit Fleisch versorgen soll. In den Bars der abgelegenen Insel Lampedusa kommentiert man mit gebührendem Entsetzen die Nachricht, dass in Norditalien die Leiche eines seit Monaten vermissten Mädchens gefunden wurde. Und seit Anfang Februar streiken die Fischer, weil sich ihr Beruf nicht mehr rechnet, die Kosten die Einnahmen übersteigen. So weit die Sorgen auf Lampedusa. Und dann hat sich zwischen die winterlichen Alltagsgeschäfte der Einheimischen das Zeitgeschehen gedrängt.

Ein „Exodus biblischen Ausmaßes“ stehe bevor, hunderttausende Nordafrikaner würden Europas südlichsten Zipfel, das italienische Mittelmeerinselchen Lampedusa, das selbst nur 6000 Einwohner hat, überschwemmen. „Invasion“, rief Italiens Außenminister Franco Frattini am vorletzten Dienstag.

Und dann hantieren, als wäre nichts, Pietro Marotta und sein Sohn an der Kreissäge und bauen für die kommende Saison an neuen Küchen für die Ferienwohnungen. Mutter Maria kümmert sich um ein krankes Kind.

Maria Marotta war eine der ersten Freiwilligen, die beim Roten Kreuz mitgeholfen hat. Als es losging, als die ersten jungen Männer aus Tunesien auf der Mole kampierten. Man brachte sie provisorisch in der Pfarrei, dem Gemeindezentrum und in dem eleganten Informationszentrum des Naturschutzvereins unter. „Wir haben für die armen Flüchtlinge gekocht und Kleidung besorgt“, sagt Marotta. Und erinnert sich an früher, an Erzählungen ihrer Großmutter von Schiffen der Insulaner, die mit „Schwämmen und Datteln“ beladen aus Nordafrika zurückkamen. Damals ging die Flucht umgekehrt, um der Armut der Insel zu entkommen, zog man nach Süden. Jetzt ist es andersherum.

Die Bars und Souvenirläden für die Touristen, die jetzt bald wieder kommen werden, sind noch geschlossen. Wenn es regnet, werden die Straßen zu reißenden Bächen, denn es gibt immer noch keine ausreichende Kanalisation, und am Hafen spachteln die Fischer, da sie ja ohnehin gerade streiken, an ihren Booten. In der Bar an der Hauptstraße sitzt der dürre Jemel aus dem tunesischen Sfax vor einer Tasse Kaffee und telefoniert aufgeregt. Er kam vor einer Woche an, mit einem winzigen, hölzernen Boot. Auf den ersten Blick kann man den Clandestino, wie man die Flüchtlinge hier nennt, in seinen Jeans, Turnschuhen und dem Mobiltelefon in der Hand nicht von anderen Jugendlichen auf Lampedusa unterscheiden. Er ist endlich angekommen, wo er wie Tausende seiner Landsleute hinwollte: Europa.

Seit sie in Tunesien auf die Straße gingen und in der Jasmin-Revolution ihre Regierung stürzten, fehlen die Kontrollen an Häfen und Küsten. Sofort haben die Harraga an der Nordküste Afrikas, so wie Jemel, die Chance ergriffen und sich auf den Weg übers Meer gemacht. Harraga nennen sie sich nach dem arabischen Wort Harga, was so viel heißt wie „brennendes Verlangen“. Es heißt aber auch „Papiere verbrennen“ und das eigene Los in die Hand nehmen, dem unstillbaren Traum von einem besseren Leben folgen.

„Eine Zeit lang kamen nur vereinzelt Boote an“, sagt Frederico Miragliotta. Er ist der junge Leiter des Aufnahmezentrums, in das jeder, der von der Küstenpatrouille aufgefischt wurde, eingewiesen wird. Von dem Ansturm wurden sie überrascht. „Wir hielten das Zentrum zwar in Betrieb, aber die meisten unserer Mitarbeiter waren arbeitslos“, sagt Miragliotta, „wir haben eine Kapazität für 850 Personen, und im Augenblick tun wir, was wir tun können.“

Der Mann ist erschöpft. Inzwischen sind 6000 Harraga auf der Insel gelandet. Sie wurden von seinen Mitarbeitern versorgt und dann auf andere Einrichtungen in Italien verteilt. Als in den ersten Februartagen plötzlich Tausende ankamen, hatte Italiens Innenminister Roberto Maroni dem Zentrum noch untersagt, seinen vollen Betrieb wieder aufzunehmen. Damit verfolgte er offenbar politische Ziele. Die jungen Männer an den tunesischen Küsten sollten abgeschreckt und der Notstand auf der Insel der ganzen Welt medial vorgeführt werden. Doch der solidarische, praktische Bürgersinn auf Lampedusa hat in diesen dramatischen Tagen über populistisches Kalkül gesiegt.

Was auf Lampedusa in diesen Tagen geschieht, rückt die Frage, wie man in Europa mit Armuts- und Kriegsflüchtlingen umgeht, unter ein Brennglas. Während am Mittwoch nach einer stürmischen Woche, in der die Überfahrt nicht möglich war, erneut 500 Menschen in Booten kamen, reisten aus der Gegenrichtung die Medien an. Der Platz vor dem Rathaus ist zu einem Fernsehstudio geworden, aufgeführt wird das Spektakel Menschenflut und Gefahr. Die Szenen sind surreal. Kamerateams und Fotografen sind auf der Suche nach Darstellern, zwei Wagen der Carabinieri überwachen zur Sicherheit die Szenerie. Das italienische Fernsehen hat am Hafen mit Blick auf die Mole eine halbe Straße mit Übertragungswagen in Beschlag genommen. An der Mole hängt ein Transparent gegen diese „Reality Show“.

Dabei gab es schon schlimme Tage in dem Aufnahmezentrum. Von 2000 bis 2009 waren mehr als 111 000 Clandestini angekommen. Vor zwei Jahren wollte die Regierung dies beenden und die Einrichtung in ein Abschiebelager umwandeln. Es kam zu tagelangen Protesten. Das Zentrum ging in Flammen auf, und viele Einheimische schlossen sich der Revolte an. Sie fühlten sich von der politischen Entscheidung im fernen Rom ausgeschlossen. Jetzt will man es anders machen, „die Spannung rausnehmen“, wie der Leiter erklärt, „die Tore stehen offen, unsere Gäste können kommen und gehen, wie sie wollen. Alles ist beweglicher geworden.“

Im Lager gibt es warmes Essen und warmes Wasser in den Duschen, nur in den Zimmern sei es kalt, „die Decken sind dünn, wir frieren“, sagt Jemel. Er ist dennoch zufrieden mit seiner Lage, aber auch noch ziemlich mitgenommen. Drei Tage habe seine Überfahrt gedauert, Wasser und Essen seien ausgegangen. „Wir waren 47 Leute an Bord. Dann sahen wir das Flugzeug über uns, darauf kam ein Boot der Küstenwache, und dann haben sie uns hierhergebracht.“ Sein neuer Kumpel Haziz hatte mehr Glück, war nur 15 Stunden unterwegs und das auf einem anderen, einem großen Fischerboot. Die Überfahrten waren teuer, 1000 Euro pro Person.

Die beiden jungen Männer, die ihr Leben in die Hand nehmen wollen, haben zunächst einmal nicht mehr mitzureden, wenn es um ihre Schicksale geht. Darüber soll in den Hauptstädten Europas entschieden werden. „Wir bekamen Nummern und wurden fotografiert“, sagt Jemel. Er soll als Nächstes ins süditalienische Bari gebracht werden. Das freut ihn, auch wenn er keine rechte Vorstellung davon hat, wo Bari liegt. Das ist ihm nicht wichtig, er wird auch dort die Zeit totschlagen, bis sein Fall behandelt ist und dann versuchen, nach Frankreich zu kommen, wo seine Schwester lebt.

„Meine Eltern finden das richtig, auch wenn meine Mutter drei Tage lang geweint hat“, sagt Jemel. Fahem, ein Künstler, weiß noch nicht, wann er die Insel verlassen kann und wohin er dann kommen wird. Doch auch er ist voller Energie und Zuversicht. „Ich bin Maler, mache aber auch Fußböden und so was. Ich habe schon in Frankreich gearbeitet und finde bestimmt wieder etwas.“ Er spricht akzentfrei Französisch. Haziz, der Fischer, hat noch nie von Mazara del Vallo in Sizilien gehört, wo seit Jahrzehnten eine Community von tunesischen Fischern arbeitet. Aber er übt schon: „Was heißt ‚ich suche Arbeit’ auf Italienisch?“, fragt er, und alle sagen: „Cerco lavoro.“

Keiner von ihnen kann absehen, wie schwer es werden wird, im Traumland Europa zu bestehen, und wie viele von ihnen als Schwarzarbeiter auf den Feldern Süditaliens Tomaten pflücken werden, damit Europa billiges Gemüse hat. Aber was sie alle eint und vielleicht stark macht, ist die Erfahrung, ohne Perspektiven zu leben. Sie verachten Ben Ali und sein Regime. Auf baldige Veränderungen hoffen sie nicht, sie haben lange auf die Verwirklichung ihres Traums gespart und auf einen Platz im Boot nach Europa gewartet.

Für alle Flüchtlinge ist die Insel nur eine Durchgangsstation, das wissen sie. Keiner hat politisches Asyl beantragt, das dauert zu lange, da ist Jemel pragmatisch. „Wir brauchen Papiere!“, ruft er. Viele der Harragas haben kein Geld mehr, weil sie ohne die Papiere, die sie verbrannt haben, auch kein Geld mehr aus der Heimat überwiesen bekommen können. Einheimische helfen mit kleinen Beträgen für Zigaretten und das Aufladen der Mobiltelefone aus.

Allerdings fürchten die Alteingesessenen, dass ihnen die Freundlichkeit falsch ausgelegt werden könnte, sie haben Angst, die in alle Welt ausgestrahlten Bilder von Flüchtlingen auf der Insel könnten dem Tourismus schaden. „Früher wurden die Clandestini ins Aufnahmezentrum gebracht, man sah sie nicht. Jetzt laufen sie hier durch die Straßen, und die Touristen bekommen Angst und stornieren ihre Buchungen“, meint einer. Wenn das geschehe, sei die Insel am Ende.

Schon fordert das „spontane Bürgerkomitee“ eine Anordnung der Behörden, dass die Clandestini wieder hinter die Zäune des Zentrums verbannt und damit tatsächlich zu Unsichtbaren werden. Dabei ist die Insel längst Teil einer prosperierenden Migrationsindustrie, die vielen Einheimischen ein Einkommen schafft. Für jeden Flüchtling erhält das Zentrum 33 Euro pro Tag. Hier sind 90 Mitarbeiter in der Verwaltung beschäftigt, außerdem Ärzte, Psychologen, kulturelle Mediatoren, Dolmetscher, Putzfrauen, Köche. Die Europäische Union zahlt Hunderttausende an Einrichtungen wie die International Organisation of Migration, das Rote Kreuz und das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen. Hoteliers machen durch Polizei, Carabinieri, Guardia di Finanza in der sonst toten Wintersaison ein gutes Geschäft. Auch die Vereinigung SOS Pelagische Inseln versucht, Profit aus der Situation zu schlagen, verlangt von der Regierung „Entschädigung“ für diesen „Notfall“ und fordert Steuererleichterungen, Verbesserung der Infrastruktur.

Einträglich ist auch das Verschrotten der beschlagnahmten Schaluppen, Fischer- und Schlauchboote. 2009 hatte das 350 000 Euro in die Kassen gebracht.

„In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume“, hat der Philosoph Michel Foucault einmal bemerkt. Jemel und seine Weggefährten wissen das auch so.

Heidrun Friese[Lampedusa]

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