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Ein Fachbesucher testet auf der Spielemesse Gamescom mit einer VR-Brille (Virtual Reality) von Sony ein Computerspiel.

© picture alliance/dpa/Oliver Berg

Neue Zeiten fest im Blick: Kann die Ampel Zukunft?

Vorausschauend gestalten, die Digitalisierung vorantreiben – das hat sich die Koalition fest vorgenommen. Erreicht hat sie wenig

Die Energiekrise, der Krieg in der Ukraine und die Transformation des Arbeitsmarktes – auf der Klausurtagung des Kabinetts wird die Digitalstrategie nur noch eine Randnotiz sein. Dabei ist das Projekt so ambitioniert wie relevant: In die Top Ten des europäischen Digitalindex will die Regierung kommen – für den digitalen Nachzügler Deutschland ist das ein angemessen ambitioniertes Ziel.

Seit Beginn des Jahres laufen im Haus von Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing (FDP) die Planungen für eine entsprechende Strategie zusammen. Jedes Ressort war aufgerufen, ambitionierte Ziele für die digitale Transformation bis 2025 auszuarbeiten.

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Im Ansatz ist das auch gelungen. Die neue Version des Papiers sieht etwa vor, dass 2025 80 Prozent der gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte nutzen sollen. Oder dass die Digitalisierung der Verwaltungsservices – mit einigen Jahren Verspätung – endlich flächendeckend gelungen sein soll. Bis dahin soll es auch selbstfahrende Autos auf deutschen Straßen geben.

Kanzler Scholz ist auffällig desinteressiert

Möglichst messbar sollen die Ziele sein und damit auch der Erfolg am Ende der Legislaturperiode. Wissing will persönlich dafür bürgen, dass die Umsetzung überwacht wird und die Strategie als Ganzes gelingt.

Die Digitalstrategie ist einerseits ein Eingeständnis, dass die Digitalpolitik ohne eine zentrale Koordinierung kaum eine Chance hat, greifbare Ergebnisse zu erzielen. In der vergangenen Legislaturperiode wurde versucht, die komplexen Prozesse aus dem Kanzleramt heraus zu steuern, mit Hilfe der Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär (CSU).

Von dort aus wurde die Modernisierung der Bundes-IT beaufsichtigt, die föderal organisierte Digitalisierung der Verwaltung angetrieben und eine Datenstrategie für Deutschland entworfen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) persönlich setzte sich dafür ein, dass der erste kommerzielle Quantencomputer nach Deutschland kommt.

Die große Koalition hatte trotzdem allenfalls eine eher gemischte Bilanz, scheiterte an Projekten wie dem digitalen Personalausweis oder Führerschein für alle. Keine dankbare Aufgabe also, Deutschlands Digitalisierungsdefizite auszugleichen. Und Olaf Scholz (SPD), Merkels Nachfolger im Amt? Der ist persönlich auffällig desinteressiert an allem, was mit Digitalisierung zu tun hat. Er scheint sich auch kaum dafür zuständig zu fühlen, dass die neuen Verantwortlichen in den Ressorts effektiv arbeiten können.

Der "Zukunftsrat" hat seine Arbeit aufgenommen

Auffallend auch: Ein Jahr nach der Bundestagswahl blieben die Zuständigkeiten lange Zeit ungeklärt. Wer zum Beispiel das geplante Dateninstitut für Deutschland aufbauen und ausgestalten darf, das ist zumindest jetzt entschieden. Eigentlich wäre es Aufgabe des Kanzleramtes gewesen, hier frühzeitig ein Machtwort zu sprechen. Das Kabinett soll in Meseberg zumindest ein Eckpunktepapier zu den digitalpolitischen Zuständigkeiten beschließen, das Scholz’ Organisationserlass vom Dezember zementiert.

Entsprechend der geänderten Prioritäten wird jetzt die ehemalige Digitalabteilung sechs im Kanzleramt umgebaut, die unter Merkel von ihrer Vertrauten Eva Christiansen geleitet wurde. Von hier aus soll künftig ein Fokus auf Partnerschaften und Dialoge zur Begleitung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Transformation gelegt werden. So hat unter Benjamin Mikfeld (Abteilungsleitung) und Heike Zirden (Gruppenleitung) im August Max Neufeind, ehemaliger Digitalstratege aus dem Scholz’schen Bundesfinanzministerium, das Referat „Grundsatzfragen der Transformation“ übernommen. Scholz’ neuer „Zukunftsrat“ hat ebenfalls seine Arbeit aufgenommen. Ihren eigenen Digitalrat ließ die Regierung im ersten Jahr links liegen.

Foresight vom Fraunhofer ISI wegweisend

Statt operative Digitalpolitik zu betreiben, macht sich die Regierungszentrale ein neues Instrument zu eigen: die strategische Vorausschau oder auf Englisch „Foresight“. Das dazugehörige Referat im Kanzleramt leitet Cilia Ebert-Libeskind. Zudem denkt das Kanzleramt darüber nach, ein eigenes „Zukunftslabor“ einzurichten, in dem etwa weitreichende Entscheidungen der Regierung vorher auf ihre „Zukunftsverträglichkeit“ geprüft werden können. Das ist der Kern einer im Regierungsauftrag erstellten Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI). Untersucht wurde, wie sich Methoden der „strategischen Vorausschau“ in politisches Handeln einbetten lassen.

Die Studie stellt das methodische Arsenal, empirische Erfahrungen im Ausland und die aus Befragungen im Regierungsapparat gewonnenen Erwartungen dar, um „die Zukunftsfähigkeit der Regierungsarbeit zu stärken“. Die Methoden strategischer Vorausschau reichen von der Szenarienplanung über „Horizon Scanning“, das mit ausgefeilten Web-Techniken nach Zukunftsthemen fahndet, bis hin zu sogenannten Delphi-Befragungen eines engeren Expertenkreises. Alle Ansätze zielen darauf ab, „verschiedene Perspektiven auf Zukunftsthemen zu bündeln und alternative Zukunftsbilder sowie konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln“.

Zu welchem Zweck? Um den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser gerecht zu werden, brauche es eine „Stärkung der Kapazitäten für langfristiges Denken und Handeln“, schreiben die ISI-Wissenschaftler. „Angesichts der zunehmenden Vernetzung, Geschwindigkeit und Komplexität globaler Systeme stellt eine solche vorausschauende und vorsorgende Regierungsführung hohe Anforderungen an den Regierungsapparat.“ Eine solche erfordere „eine ausgeprägte Aufmerksamkeit für Signale beginnender Veränderungen, eine Kultur des Hinterfragens von Zukunftsannahmen, ein systematisches Aufbrechen von Wahrnehmungsfiltern und die konsequente Einübung horizontaler und systemischer Denkweisen“.

Andere Länder liegen vorn

Die Ampel bezeichnet sich gerne selbst als Fortschritts- und Zukunftskoalition. Das Problem: Wenn es praktisch werden soll, stottert die Umsetzung. „Die Verknüpfung von strategischer Vorausschau mit strategischer Politikformulierung und politischer Planung bleibt meist aus“, heißt es in der Studie.

In anderen Ländern kommt die strategische Vorausschau bereits zum Einsatz, zum Beispiel in Kanada, Großbritannien, Spanien oder Singapur. In Finnland gibt es unter anderem einen „Ausschuss für Zukunftsfragen“ im Parlament. Die Abgeordneten, so erfuhren die ISI-Interviewer von ihren finnischen Gesprächspartnern, gingen sehr gerne in dieses Gremium. Gelangen sie in Regierungsfunktionen, nehmen sie dieses Wissen mit. Vier finnische Premierminister waren zuvor in diesem Ausschuss tätig. Im Gegensatz zu den anderen Gremien gelänge es immer, sich auch über Parteilinien hinweg zu einigen. Zukunft, die verbindet, aber eben nur mit einer institutionellen Grundlage.

Viele Vorschläge für die Zukunft

Vor diesem Hintergrund gelangen die Politikberater des Fraunhofer-ISI zu unterschiedlichen Vorschlägen, wie man die Vorausschau in der Regierungszentrale etablieren könnte–von der Minimallösung einer kleinen, dezentralen Unterstützungseinheit für die Ressorts bis zur Einrichtung eines „Zukunftslabors“.

Ein derartiger regierungsinterner Thinktank könnte der „Kern eines kreativen Denk- und Experimentierraums zur Stärkung kooperativer transformativer Problemlösungsansätze in der gesamten Bundesregierung“ werden. Die 20 bis 40 Mitarbeitenden würden aus den Ministerien für drei Jahre abgeordnet. Sie blieben aber nicht unter sich, sondern sollen mit „Fellows“ zusammenarbeiten, „die aus Wissenschaft und Praxis rekrutiert werden“.

Wird die Ampelkoalition ihre strategische Vorausschau stärken – und wenn ja, wie? Dies sei noch nicht entschieden, antwortet ein Sprecher der Regierung auf die Anfrage von Tagesspiegel Background Digitalisierung, werde aber geprüft. Grundsätzlich sieht sich das Kanzleramt durch die Studie „darin bestätigt, dass der gezielte Einsatz von Instrumenten der strategischen Vorausschau sinnvoll ist“.

Langfristige Ziele notwendig

Der Berliner Foresight-Experte Klaus Burmeister begrüßt das Regierungsinteresse für strategische Politikausrichtung. Wichtig ist dem Mitautor der Zukunftsstudie „Deutschland D-2030“, dass langfristiges politisches Handeln – über Ressorts, Parteien und Legislaturperioden hinaus – „unabdingbar ein zivilgesellschaftliches Pendant“ brauche.

Eine Stärkung der Exekutive bei der strategischen Vorausschau benötige, um die die gesellschaftliche Transformation und ihre multiplen Systemkrisen erfolgreich zu bewältigen, „einen Partner, der politisch und wirtschaftlich unabhängig auf Augenhöhe agieren kann“. Hierzu müsse „die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite gewonnen und befähigt werden“. Dies könne als „Lab“ oder als „alternierender Zukunftsrat“ organisiert sein. Denn Vorausschau brauche „die Erprobung und den Diskurs als gemeinsame gesellschaftliche Zukunftsaufgabe“.

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