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In diesem Haus in Weldon, Saskatchewan soll die Messerattacke stattgefunden haben.

© dpa / Heywood Yu

Kanada im Schock: Was eine Bluttat mit einem kollektiven Trauma zu tun hat

Zwei Brüder sollen bei Messerattacken vor allem Indigene getötet haben. Die Tat lenkt den Blick auf ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Landes.

Zehn Tote, 13 Tatorte, 18 Verletzte: Die kanadische Bundespolizei RCMP fahndete am Dienstag in der Prärieprovinz Saskatchewan noch immer nach einem mutmaßlichen Täter, der eine Serie von Messerattacken verübt haben soll. Der zweite mutmaßliche Täter war am Montagabend in der indigenen Gemeinde „James Smith Cree Nation“ tot aufgefunden worden. Die Hintergründe der Tat sind weiter unbekannt – und schockieren Kanada. Die Messerattacken ereigneten sich offenbar in den frühen Morgenstunden am Sonntag.

Die Bundespolizei RCMP rief die Bevölkerung der Prärieprovinz auf, weiterhin wachsam und vorsichtig zu sein. Bei den beiden mutmaßlichen Tätern handelt es sich um zwei Brüder im Alter von 30 und 31 Jahren. Der 30 Jahre alte M. ist weiterhin auf der Flucht. Sein ein Jahr älterer Bruder D. war tot mit Verletzungen in einem Feld nahe eines Hauses in der Gemeinde der James Smith Cree Nation aufgefunden worden. Ob M. seinen Bruder tötete, ist eine der Fragen der polizeilichen Ermittlungen.

Die Leiterin der RCMP in Saskatchewan, Rhonda Blackmore, erklärte, dass M. möglicherweise verletzt ist und ärztliche Betreuung benötigt. „Selbst wenn er verletzt ist, bedeutet das nicht, dass er nicht gefährlich ist“, warnte sie.

Die Polizei spricht von 13 Tatorten. Die Zahl der Verletzten wurde inzwischen von 15 auf 18 erhöht. Neun der zehn Opfer der Messerattacken sind Angehörige der James Smith Cree Nation, einer indigenen Gemeinde („First Nation“) in der Provinz Saskatchewan, 300 Kilometer nördlich der Hauptstadt Regina. Sie besteht aus insgesamt drei kleineren Gemeinden mit insgesamt rund 1600 Bewohnern.

Verdächtiger war bereits oft straffällig

Das kanadische Schulsystem hat indigene Gemeinden wie Weldon über Jahrzehnte traumatisiert.
Das kanadische Schulsystem hat indigene Gemeinden wie Weldon über Jahrzehnte traumatisiert.

© AFP / LARS HAGBERG

Bislang wurde nicht offiziell bestätigt, dass M. und D. Angehörige der First Nation sind. Aber viele Aussagen aus der Gemeinde deuten darauf hin. Zudem spricht die Polizei davon, dass ein Teil der Opfer gezielt attackiert wurde, während andere der Tat zufällig zum Opfer fielen. Auch dies deutet darauf hin, dass die mutmaßlichen Täter einige der Opfer gekannt hatten.

M. hat, obwohl erst 30 Jahre alt, nach Angaben kanadischer Medien eine lange Geschichte strafrechtlicher Auffälligkeiten, die in seine frühe Jugendzeit zurückreicht. Er war wegen mehrerer Gewaltdelikte – darunter familiäre Gewalt – zu einer Haftstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Im Frühjahr war er, nachdem er zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte, unter strengen Auflagen entlassen worden, um seine Wiedereingliederung in die Gemeinde zu fördern.

Er hatte aber im Mai offenbar gegen Auflagen verstoßen und wurde seitdem von der Polizei gesucht. Nun wird ihm mehrfacher Mord vorgeworfen. Die Tragödie von Saskatchewan wirft wieder ein Schlaglicht auf die sozialen Probleme in zahlreichen indigenen Gemeinden Kanadas. Der Vorsitzende des Verbandes der Föderation der unabhängigen indigenen Nationen Saskatchewans, FSIN, Bobby Cameron, mahnte: „Das ist die Art der Zerstörung, der wir gegenüberstehen, wenn illegale Drogen in unsere Gemeinden gelangen.“

Indigene litten unter einem grausamen Schulsystem

Das System der „Residential Schools“ geriet in jüngerer Zeit in die Schlagzeilen. Ein ehemaliges Internat ist hier in Kamloops, British Columbia zu sehen.
Das System der „Residential Schools“ geriet in jüngerer Zeit in die Schlagzeilen. Ein ehemaliges Internat ist hier in Kamloops, British Columbia zu sehen.

© REUTERS / DENNIS OWEN

Die kanadische Politik versuchte in den vergangenen Jahrzehnten, den Lebensstandard in Gemeinden zu heben – teils mit Erfolg. Doch es besteht auch weiterhin eine Lücke im Lebensstandard zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung. Drogen, Alkohol und Gewalt sind Probleme in vielen Gemeinden. Darryl und Ivor Burns sind Brüder der 62-jährigen Sozialarbeiterin Gloria Burns, die am Sonntag erstochen wurde, als sie anderen Opfern beistehen wollte.

„Sie starb, als sie helfen wollte“, sagte ihr Bruder Darryl nach ihrem Tod. Darryl und Ivor sehen Drogen- und Alkoholmissbrauch als Ursachen dieser schrecklichen Tat, und sie sprechen davon, dass die beiden mutmaßlichen Täter in einen „Zyklus von Trauma und Dysfunktion“ gefangen gewesen seien. Sie hoffen, dass die Probleme mit dem über Generationen hinweg weitergegebenen Trauma in indigenen Gemeinden wirklich angepackt werden, um „Heilung und Vergebung“ zu ermöglichen.

Unter dem englischen Stichwort „intergenerational trauma“ werden die Wunden verstanden, die durch Kolonialismus und das Schulsystem der „Residential Schools“ den indigenen Völkern zugefügt wurde. Indigene Kinder mussten diese staatlichen Internate, die oft fern ihrer Gemeinden lagen, bis in die 1960er Jahre besuchen.

Die Schulen wurden meist von Kirchen geführt und Kanada versucht nun, diese Geschichte aufzuarbeiten. In den Internaten durften Kinder ihre indigenen Sprachen nicht sprechen, sie waren ihren Familien und der Liebe ihrer Eltern entrissen, ihre Identität und Kultur wurde zerstört. Das Schulsystem zerrüttete über Jahrzehnte indigene Gemeinden, was als einer Ursachen heutiger Probleme gesehen werden.

Die Entdeckung von Massengräbern indigener Kinder im Umfeld von Residential Schools im Frühjahr 2021 hatte das dunkle Kapitel in der Geschichte des Landes wieder in die Schlagzeilen gebracht. Papst Franziskus reiste im Juli nach Kanada und entschuldigte sich für das Unrecht, das indigene Völker durch die katholische Kirche erlitten haben.

Die James Cree Nation ist eine indigene Gemeinde mit etwa 3400 Menschen, von denen aber nur rund die Hälfte in der Gemeinde in Nord-Saskatchewan lebt. Denn von den rund eine Million Angehörigen der mehr als 600 First Nations in Kanada lebt lebt etwa die Hälfte nicht in ihren meist ländlichen Gemeinden, die als „Reservationen“ deklariert sind, sondern „off reserve“ in den Städten.

Oft war der Mangel an Perspektiven in den abgelegenen Gemeinden Grund dafür, dass die Menschen in die Städte zogen. Dort, wo der Aufbau einer lokalen Wirtschaft und des indigenen Schulsystems Erfolge zeigt, kehren Mitglieder der First Nations wieder in ihre Gemeinden zurück.

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