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Johannes Tuchel: „Mythen können sich nie auf Dauer halten“

Politikwissenschaftler Johannes Tuchel spricht mit dem Tagesspiegel über den Befund der Historikergruppe und die Rolle von Amtschef Ernst von Weizsäcker.

Herr Tuchel, das Auswärtige Amt war eine "verbrecherische Organisation". Überrascht Sie der Befund der Historikergruppe?

Nein, aber ich denke, dass über diese Bewertung diskutiert werden muss, wie dies Christopher Browning ja auch bereits im Tagesspiegel gefordert hat. In der Wissenschaft ist die Beteiligung des Amtes an den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ja schon verschiedentlich aufgearbeitet worden, etwa in den großen Studien von Christopher Browning selbst und Hans-Jürgen Döscher in den späten 1970er und 1980er Jahren.

Die Studie rückt auch den damaligen Amtschef Ernst von Weizsäcker in ein neues Licht.

Ernst von Weizsäcker zählte gewiss nicht zu denjenigen im Auswärtigen Amt, die aktiv die nationalsozialistische Diktatur bekämpft haben. Das belegen auch die jüngst wieder diskutierten Direktiven Weizsäckers zu Thomas Mann. Allerdings hat Weizsäcker mit engen Mitarbeitern 1938 versucht, aktiv Hitlers Kriegspläne zu hintertreiben.

Wenn das Auswärtige Amt ein verbrecherisches Amt war, war von Weizsäcker dann auch ein verbrecherischer Amtschef?

Nein, entscheidend ist der zeithistorische Kontext. Klar ist, dass die These falsch ist, das Judenreferat sei allenfalls ein „abgeschirmter Sonderbereich“ gewesen. Es gab im Amt einige wenige, die Widerstand geleistet haben, etwa Adam von Trott zu Solz, Hans Bernd von Haeften, Ulrich von Hassell oder Fritz Kolbe. Es gab Opportunisten und „Mitläufer“, dazu zähle ich den überwiegenden Teil des Amtes. Und es gab Verbrecher wie Unterstaatssekretär Martin Luther oder Franz Rademacher vom Judenreferat.

Verbrecher, die von der Amtsspitze gedeckt wurden?

Ja. Deshalb wurde Joachim von Ribbentrop im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt, und führende Beamte mussten sich ja auch im Wilhelmstraßen-Prozess verantworten.

Im Wilhelmstraßen-Prozess wurde Ernst von Weizsäcker durch seinen Sohn Richard verteidigt, der später als Bundespräsident zu einem der Haupterklärer der deutschen Befreiung wurde. Werfen die neuen Erkenntnisse über seinen Vater jetzt auch auf ihn ein anderes Licht?

Nein. Richard von Weizsäcker gebührt der Verdienst, den 8. Mai 1945 für die gesamte deutsche Gesellschaft richtig eingeordnet zu haben: als Tag der Befreiung. Außerdem haben er und andere aufgezeigt, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in allen gesellschaftlichen Bereichen und Organisationen immer nur von kleinen Gruppen mutiger Menschen getragen wurde. Doch ganz gleich, wie klein diese Gruppen waren: Sie zeigten, dass es immer Alternativen zum Mitmachen und zum Opportunismus gab.

Wenn sich die öffentliche Bewertung des Auswärtigen Amtes ändert, ändert das nicht trotzdem auch die öffentliche Bewertung des bürgerlichen Widerstandes? Wurde dessen Beitrag überbewertet?

Wir müssen immer den Zeitkontext im Auge behalten. Die Akzeptanz und die Bewertung des deutschen Widerstands in der deutschen Öffentlichkeit ist ein Prozess, der über Jahrzehnte gereift ist …

… und anfänglich von Ablehnung, ja Verachtung geprägt war.

Aber sicher! Der Widerstand ist von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Gesellschaft bis tief in die 1960er Jahre abgelehnt worden – egal, wo er geleistet wurde, ob in der KPD oder im Auswärtigen Amt. Die Witwen des 20. Juli 1944 bekamen zum Teil keine Renten, weil ihre zum Tode verurteilten Ehemänner als verurteilte Hochverräter galten. Der Widerständler und Sozialdemokrat Adolf Grimme musste sich als Intendant des NDR-Vorläufers NWDR anhören, als „Rotfunk-Grimme“ für Moskau „zu funken“. Oder schauen sie auf Marlene Dietrich, deren Emigration in die USA und ihre Auftritte vor US-Soldaten bis in die 1970er Jahre als „Verrat“ gesehen wurde.

In den 60er Jahren setzte eine Veränderung ein.

Sie betraf in der Bundesrepublik zuerst den Blick auf den 20. Juli 1944 und den bürgerlichen Widerstand. Die Rolle des Widerstands der Arbeiterbewegung wurde gleichrangig erst in den 1970er Jahren aufgegriffen. Auf die – historisch ja auch zutreffende – Rolle des bürgerlichen Widerstandes konnte man sich in der ausgehenden Adenauer-Ära am ehesten berufen.

Nicht aber auf die Bewertung von Amtsträgern als historisch verstrickt?

Da bin ich mir gar nicht so sicher. Auch hier setzte Ende der sechziger Jahre eine Neubewertung ein, allerdings sprechen wir hier über einen Prozess, der sehr lange brauchte, um von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit und schließlich in die Spitze des Amtes zu diffundieren. Das zeigt etwa die Karriere des Diplomaten Hartmut Schulze-Boysen, der es als Bruder des Widerstandskämpfers Harro Schulze-Boysen, eines der führenden Köpfe der Widerstandsorganisation „Rote Kapelle“, nicht einfach hatte, im Auswärtigen Amt in höhere Positionen zu kommen.

Hat das deshalb so lange gedauert, weil bestimmte Kreise an einer Neudefinition der Rolle auch Ernst von Weizsäckers kein Interesse hatten? In der „Zeit“ etwa wurde noch 1987 Döschers AA-Studie verrissen …

Mythen können sich nie auf Dauer halten. Irgendwann kommen immer die Fakten auf den Tisch – und denen kann man sich nicht mehr entgegenstellen.

Johannes Tuchel ist Politikwissenschaftler und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Mit ihm sprach Sebastian Bickerich.

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