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Dringend benötigt und trotzdem zu mörderischen Wegen nach Europa gezwungen: Afrikanischer Arbeiter bei der Erdbeerernte in Spanien

© Samuel Aranda/AFP

Update

Jahresgutachten: Sachverständige kritisieren EU-Afrikapolitik scharf

Statt einseitiger Migrationsabwehr fordert der Sachverständigenrat SVR, aktiv Arbeitskräfte in Afrika anzuwerben. Auch mit Blick auf Corona.

Die Europäische Union sollte aktiv Migrantinnen und Migranten aus Afrika anwerben und dafür auf die bisherigen Wege im Umgang mit dem Nachbarkontinent weitgehend verlassen. In seinem Jahresgutachten für 2020 weist der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration darauf hin, dass die vielen Versuche der letzten Jahre, dringend benötigte Arbeitsmigration zu ermöglichen, für Menschen aus Afrika praktisch ohne Bedeutung seien – entweder weil dort Arbeitsverwaltungen fehlten oder weil es zu wenige deutsche Informationskanäle gebe, etwa über Goethe-Institute, Interessierte zu informieren.

"Partnerschaften" mit ungleicher Macht

Mit der  bisherigen europäischen Afrikapolitik gehen die Fachleute – neun Professorinnen und Professoren, die sich auf ihren Gebieten von Jura und Wirtschaft bis Psychologie und Soziologie alle mit Integration und Migration beschäftigen -  hart ins Gericht. Die „Entwicklung der EU-Afrika-Kooperation sieht der SVR (…) kritisch“, heißt es im Gutachten.  Deren schlimmste Effekte entdeckt er in der wachsenden Vorverlagerung der EU-Grenzsicherung nach Afrika, die seit geraumer Zeit auch Entwicklungshilfe daran knüpft, ob die Staaten sich im Sinne der EU kooperativ verhalten. „Es  wird befürchtet, dass die institutionalisierte Kooperation mit Drittstaaten  auf  dem  afrikanischen  Kontinent  schlicht und einfach die Menschen daran hindern soll, auf europäisches Territorium zu gelangen.“ Dieses Ziel sei „als eines unter mehreren angemessen, es darf aber nicht allein die politische Agenda bestimmen“. Die Sachverständigen kritisieren, dass europäische „Partnerschaften“, die es inzwischen mit 13 afrikanischen Ländern gibt, kaum je auf jener Augenhöhe seien, die die Vertragstexte behaupten: Hier müsse die Frage nach der „Verhandlungsmacht“ der einen wie der anderen Seite gestellt werden.

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Die  Eindämmung irregulärer Migration sei nämlich „in der Regel nicht“ im Interesse afrikanischer Regierungen und innenpolitisch für sie gefährlich. Andererseits polierten Diktaturen und Regimes, die Menschenrechte massiv verletzten – das Gutachten verweist unter anderem auf Sudan – ihr schlechtes internationales Image als Partner der EU auf und kämen an Geld. Das Al-Sisi-Regime in Ägypten habe „das EU-Interesse an Migrationskontrolle zur Sicherung der eigenen Herrschaft“ nutzen können. Als „Extremfall“ solcher Kooperationen nennt das Gutachten Libyen. Die Kritik an der vorverlagerten Grenzkontrolle der EU ist nicht neu und wird von Nichtregierungsorganisationen seit langem formuliert; neu ist sie in dieser Ausführlichkeit in einem Gutachten, das nach SVR-Angaben erstmals von der Bundesregierung finanziert wurde; die Stiftungen hinter dem SVR, trugen nur noch fünf Prozent der Kosten.

Schon ein Zehntel ausländischer Studierender in Deutschland aus Afrika

Statt der Logik der Abwehr, die der SVR in den letzten Jahren als beherrschend in der EU-Afrikapolitik sieht, schlägt er Angebote an afrikanische Auswanderungswillige vor, um irreguläre Migration einzudämmen.  Eines könnten Arbeitsvisa auf Zeit sein. Um sicherzustellen, dass die so Angeworbenen nach Ablauf ihres Visums - gedacht ist an 18 Monate mit der Möglichkeit wiederzukommen -auch wirklich zurückkehrten, müssten sie eine Kaution stellen. Ein Anrecht auf Sozialleistungen gebe dieses Visum nicht. „Anstatt Schlepperbanden zu bezahlen, könnten interessierte Migrantinnen und Migranten so einen legalen und nicht lebensbedrohlichen Weg nach Europa wählen“, heißt es im Gutachten. Sie würden zudem gebraucht, meint der SVR, weil unter anderem Saisonarbeitskräfte vom Balkan absehbar nicht mehr zur Verfügung stehen würden wie bisher. Für sie wurden die harten Einreiseregeln schon vor einigen Jahren gelockert.

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Potenzial für Hochqualifizierte aus Afrika sieht der SVR ebenfalls. Zwar gingen die vielen Liberalisierungen der OECD-Staaten an afrikanischen Fachkräften bisher vorbei. An den Universitäten des globalen Nordens würden aber bereits viele ausgebildet. Im Wintersemester 2017/18 waren fast elf Prozent der internationalen Studierenden in Deutschland Staatsangehörige eines afrikanischen Landes – und mehr als die Hälfte von ihnen für ingenieurwissenschaftliche Fächer eingeschrieben. Alles in allem strebtenn knapp 70 Prozent von ihnen Technik-Abschlüsse an, „die  auf  dem  deutschen  Arbeitsmarkt  seit Jahren besonders gefragt sind“. Von den deutschen Studierenden sind das nur 36 Prozent. Ihnen könne man nach dem Studium den Weg zum Arbeiten in Deutschland ebnen, den es seit 2005 für ausländische Hochschulabsolventen gibt.

Kein Ansturm auf Europa

Dass „das junge Afrika“ sich ohnehin „unerbittlich auf den Weg zum alten Kontinent“ machen werde, halten die Fachleute des SVR für eine Legende und „alarmistisch“. Obwohl Naturzerstörung und Kriege auf dem Nachbarerdteil die Lebensgrundlagen einer wachsenden Bevölkerung dramatisch verschlechtert, sei nicht damit zu rechnen, „dass in 30 Jahren ein großer Teil der europäischen Bevölkerung afrikanischer Abstammung  sein“ werde. Mit dieser These hatte vor zwei Jahren ein Buch des  Journalisten und Afrikanisten Stephen Smith Aufsehen erregt. Der SVR verweist auf mehrere wissenschaftliche Szenarien, die im Auftrag der Europäischen Kommission dazu in entwickelt wurden:  Demnach würde sich die afrikanische Migration nach Europa zwar verdoppeln, aber von einem niedrigen Niveau aus, von jetzt 1,4 auf 2,8 Millionen Menschen, in einem zweiten Szenario auf höchsten 3,5 Millionen. In einer Umfrage des US-Instituts Gallup äußerten zwischen 2010 und 2015 zwar bis zu einem Drittel der über 15-jährigen Befragten den Wunsch auszuwandern, aber nur bis zu 7 Prozent schmiedeten auch konkrete Pläne und wirklich auf den Weg machten sich am Ende 0,12 Prozent. In Deutschland als einem der inzwischen wichtigsten Einwanderungsländer der Welt kamen zwischen 2000 und 2017 jährlich lediglich fünf Prozent der Migranten aus afrikanischen Ländern. Ihre absolute Zahl steige zwar auch bei uns, allerdings sei dieser Anteil bisher stabil.

Vorbereiten auf die Zeit nach Corona

Das müsse aber "nicht so bleiben", sagte die Vorsitzende des SVR, die Erlanger Politikwissenschaftlerin Petra Bendel. Allein Afrikas bevölkerungsreichstes Land Nigeria könne absehbar auf die Bevölkerungszahl der Europäischen Union anwachsen, auf etwa 500 Millionen Menschen. Sie warnte davor, wegen Corona nicht mehr über Migration nachzudenken. Das Virus bedrohe auch Afrika. Wenn auch viele Folgen noch unklar seien, mache sich schon jetzt bemerkbar, dass die Rücküberweisungen von Migranten stark rückläufig seien, die einen erheblichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts vieler Auswanderungsländer ausmachten. Die Probleme, die das noch vor der Pandemiekrise entstandene Gutachten an Aufgaben und Entwicklungen aufführe, "bündelt die Pandemie wie in einem Brennglas", sagte Bendel. Ihr Stellvertreter, der Konstanzer Jurist Daniel Thym, verwies darauf, dass die SVR-Vorschläge mittel- und langfristig angelegt seien. "Sie erledigen sich nicht durch Corona." Es gehe dem SVR auch nicht sofort um große Zahlen; zunächst sollten in Modellprojekten etwa mit den Visa auf Zeit Erkenntnisse für später gewonnen werden.

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