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Ein Verkehrsschild weist auf eine Tempo 30-Zone hin. Sieben deutsche Großstädte wollen in einem Politprojekt schon bald großflächig Tempo 30 testen.

© dpa/Arne Dedert

Initiative aus sieben Städten: Kommunen fordern mehr Entscheidungsmacht bei Tempo 30

Eine Gruppe von Kommunen möchte selbst entscheiden können, wo Tempo 30 innerorts angemessen ist. Sie fordern eine Änderung des Rechtsrahmens.

Sie wissen, wie umstritten das Thema ist – dennoch sehen sie vor allem Vor- und keine gravierenden Nachteile. Die Rede ist von den Vertretern der sieben Städte Leipzig, Freiburg, Aachen, Augsburg, Hannover, Münster und Ulm. Sie sind die ersten Unterzeichner einer neuen Initiative, die sich für mehr Tempo 30 innerorts einsetzt.

Konkret fordern sie den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit anordnen können, wenn sie dies für nötig erachten. Momentan steht dem insbesondere der umstrittene Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung (StVO) entgegen. Er erlaubt eine Umgestaltung des Straßenraums nur dann, wenn die Kommunen eine konkrete Gefährdung nachweisen können – etwa für den Radverkehr.

Kommunen müssten künftig ganze Straßenzüge oder gegebenenfalls auch stadtweit Tempo 30 als neue Regelhöchstgeschwindigkeit bestimmen dürfen, heißt es im Positionspapier. Die Änderung des Rechtsrahmens soll durch ein vom Bund gefördertes und zentral evaluiertes Modellvorhaben in mehreren Städten begleitet werden.

Legitimiert sehen sich die Kommunen unter anderem durch entsprechende Entschließungen des Bundestags von Januar 2020 und der Verkehrsministerkonferenz der Länder im April dieses Jahres. Nun hoffen sie, dass sich viele weitere Städte anschließen.

„Es wird auf Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts hinauslaufen“, sagte Burkhard Horn, freier Berater für Mobilität & Verkehr, zu Tagesspiegel-Background. Zudem sei auf rund 80 Prozent des Straßennetzes Tempo 30 in den meisten Städten ohnehin längst die Regel, es bilde sich aber nicht im Straßenverkehrsrecht ab.

Ähnlicher Vorstoß in den 80er-Jahren

Thomas Kiel D`Aragon, Verkehrsreferent des Deutschen Städtetags, verwies auf einen ähnlichen Vorstoß aus den 80er-Jahren. Damals sei es den Städten nicht dogmatisch um die flächendeckende Einführung von 30 Stundenkilometern innerorts gegangen – was heute auch der Bundestag nicht wolle.

Vielmehr könne auf Hauptstraßen auch weiter Tempo 50 und mehr gelten, es brauche aber mehr Flexibilität für 30 km/h, wenn nötig: zum Beispiel in der Zufahrt zum Geschäftszentrum oder an Stellen mit vielen Querungen von Rad- oder Fußgängern.

Den offiziellen Startschuss für die Initiative gaben gestern der Thinktank Agora Verkehrswende und der Deutsche Städtetag. Damit Städte und Gemeinden künftig die Mobilität nicht mehr nur an der Flüssigkeit des Autoverkehrs ausrichten können, plädieren Agora und die Stiftung Klimaneutralität für eine kurzfristige Reform des Straßenverkehrsrechts.

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Dann sollen auch Klima, Umwelt und eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsplanung als Leitziele zulässig sein. Dazu haben sie bei der Kanzlei Becker Büttner Held (BBH) ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das die Realisierbarkeit der geforderten Änderungen bescheinigt. Angepasst werden müssten das Straßenverkehrsgesetz, die StVO und nachgeordnete Verwaltungsvorschriften.

„Low Hanging Fruits“ für eine neue Regierung nach der Bundestagswahl

Agora-Verkehrswende-Direktor Christian Hochfeld sprach von „Low Hanging Fruits“, die sich relativ zügig nach der Bundestagswahl von der neuen Regierung ernten ließen. Denn eine eigentlich notwendige Generalrevision des Straßenverkehrsrechts würde Jahre dauern. Auch diese gehöre auf die Agenda der neuen Bundesregierung, sagte Roman Ringwald von BBH.

„Aber es braucht auch punktuelle Änderungen, die mehr sind als Kosmetik.“ Dazu gehöre für Kommunen auch, Sondernutzungserlaubnisse für das Abstellen von Sharing-Fahrzeugen im öffentlichen Raum erteilen zu dürfen. Sie seien ein wichtiges Instrument für die Verkehrswende, denn „wenn ich mir Fahrzeuge teile, brauche ich weniger öffentlichen Raum.“ Außerdem müsse bundesweit klar geregelt werden, wo etwa E-Tretroller abgestellt werden dürfen.

[Mehr zum Thema: Berlin prüft Verkehrsberuhigung - „stadtweit und systematisch“ (T+)]

„Es geht um Ermöglichung, nicht um Einschränkung“, betonte Leipzigs Bürgermeister Thomas Dienberg – der Stadt, von der die Initiative ursprünglich ausging. Tempo 30 sei ein Mittel, um die Lebensqualität in den Städten positiv zu beeinflussen und mehr Platz für Bäume, Bänke, Rad- und Fußverkehr zu schaffen.

Zudem ließen sich die Kosten für die Instandhaltung der Straßen senken. Der Befürchtung, dass durch geringere Regelgeschwindigkeiten weniger Radinfrastruktur geschaffen werden könnte, widersprachen die Städtevertreter: Vielmehr sei Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen eine Chance, diese auch für Radverkehr anbieten zu können, so der Münsteraner Stadtbaurat Robin Denstorff.

Weniger Schilderwald und nachvollziehbare Regeln

Die Kommunen hoben zudem den Sicherheitsaspekt hervor. Unfälle würden vermieden, passierten sie dennoch, seien die Folgen deutlich geringer. „Das allein wäre schon Grund genug, Tempo 30 einzuführen“, sagte der Freiburger Bürgermeister Martin Horn. Außerdem sorge dies für mehr Klar- und Einfachheit.

Momentan gelte Tempo 30 häufig an Kitas von 8 bis 17 Uhr, an Schulen von 7 bis 8 Uhr, oder teils aus Lärmschutzgründen nachts von 22 bis 6 Uhr. „Diese Einzelfallgerechtigkeit erinnert fast ein bisschen an das Steuerrecht“, so Horn, „das sorgt für berechtigten Ärger auch bei den Autofahrern und hat keine Akzeptanz“. Durchgängiges Tempo 30 hingegen lichte den Schilderwald und mache Regeln nachvollziehbarer.

Ein häufig geäußerter Einwand gegen die Einführung von Tempo 30 ist die Befürchtung, dass dies zu mehr Staus führen wird. „Wenn alles langsamer fließt, haben wir einen dichteren Verkehr in der Stadt“, sagt etwa Matthias Klingner, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Verkehrs- und Infrastruktursysteme, auf Background-Anfrage.

Für viel wichtiger hält er die Einschränkung des Stop-and-Go-Verkehrs. Auch seien Verbrennungsmotoren so ausgelegt, dass Kraftstoffverbrauch und Emissionen bei Tempo 50 und 120 am geringsten seien. „Da ist Tempo 30 in Innenstädten eigentlich kontraproduktiv.“ Als einziges Pro-Argument will Klingner das Thema Sicherheit gelten lassen.

Martin Horn kennt die Argumente der Gegner. „Die Leistungsfähigkeit des Verkehrsnetzes wird nicht über die zulässige Höchstgeschwindigkeit geregelt“, meint er. Vielmehr seien dafür die Grünzeiten an den Knotenpunkten verantwortlich. Das gelte auch für die Flüssigkeit des Verkehrs im Hauptstraßennetz. Ausschlaggebend seien hier Vorfahrtsregelungen und die Koordinierung von Ampeln. Klar sei aber, dass der Autoverkehr durch Tempo 30 etwas langsamer werde – was aber in Kauf zu nehmen sei, um Städte lebenswerter zu machen.

Der ADAC lehnt flächendeckendes Tempo 30 ab: Auf Hauptstraßen habe sich Tempo 50 bewährt, 20km/h weniger könnten bereits jetzt überall dort angeordnet werden, wo es die Sicherheit erfordere. Der Verkehrsclub warnt zudem vor einer Verkehrsverlagerung in Wohngebiete.

„Zudem müssten die Kapazitäten im öffentlichen Busverkehr erheblich ausgeweitet werden, da mit längeren Umlaufzeiten im Taktverkehr zu rechnen wäre.“ Der Fahrradclub ADFC hingegen würde Tempo 30 als Standard befürworten, auch weil es die Sicherheit der Radler:innen „enorm“ erhöhe.

Der Grünen-Verkehrspolitiker Stefan Gelbhaar begrüßte die Initiative ebenfalls. Es sei eine „Bankrotterklärung“ von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dass dieser es verpasst habe, in den vergangenen vier Jahren Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit im Gesetz zu verankern.

Jutta Maier

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