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Der Stein des Anstoßes: Internationale Militärexperten und Journalisten verfolgen die Präsentation des neuen russischen Marschflugkörpers vom Typ 9M729.

© Pavel Golovkin/AP/dpa

INF-Vertrag: Eine neue Zeitrechnung beginnt

Das atomare Wettrüsten ist zurück – und Deutschland viel zu still. Ein Gastbeitrag.

Am Samstag verstreicht die 60-Tage-Frist, die durch die USA gegenüber Russland gesetzt worden war, um den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen in Europa noch zu retten. Wenn jetzt kein Wunder geschieht, ist dieser epochale Abrüstungsvertrag Geschichte – und es beginnt eine neue Zeitrechnung.
Stirbt der INF, sehen auch die Chancen düster aus, ab 2021 das New-Start-Abkommen, das atomare Interkontinentalraketen begrenzt, zu verlängern. Aber ohne einen vertraglichen Rahmen zur atomaren Abrüstung in den USA und Russland lässt sich das Verbot der Weiterverbreitung von Atomwaffen in der Welt (Nonproliferation, NVV) auf Dauer nicht halten. Die Nonproliferation ist unzertrennlich von der Abrüstungs- und Kontrollbereitschaft der beiden nuklearen Großmächte. Rüsten die zwei auf, werden kleinere Mächte es auch tun, weil sie glauben, sich damit unangreifbar zu machen. Nord-Korea, der Iran sind nur die ersten Beispiele. Der atomare Rüstungswettlauf wäre in vollem Gange.

Die EU hätte für das Fortbestehen des Vertrags kämpfen müssen

Dabei wäre der erste und bislang weltweit einzige wirkliche Abrüstungsvertrag, der zur Vernichtung aller bis dahin existierenden atomaren Mittelstreckenraketen in West- und Osteuropa führte, es wert gewesen, sichtbar für ihn zu kämpfen. Alle diplomatischen Ressourcen zu mobilisieren, Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs einzuberufen und täglich zwischen den Hauptstädten Europas, Russlands und Moskaus unterwegs zu sein, um den Beginn eines neuen atomaren Wettrüstens in Europa zu verhindern, das wäre angezeigt gewesen. Kein Zweifel: Die Erfolgsaussichten der denkbaren Bemühungen sind überschaubar. Zu sehr möchten sich die USA und Russland von allen Bindungen bei der Entwicklung von Nuklearwaffen befreien, denn beide Länder sehen den wahren Konkurrenten nicht untereinander, sondern in der Atommacht China. Darum geht es. China war Ende der 80er Jahre nicht auf dem internationalen Radar nuklearer Abrüstungsverhandlungen und ist deshalb in keinen der existierenden internationalen Verträge zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung einbezogen. Sein heutiges Atomwaffenpotenzial umfasst zu weiten Teilen genau die mittleren Reichweiten, die für die USA und Russland nach dem INF- Vertrag verboten sind. So sehr sich die USA und Russland öffentlich für die angeblichen oder tatsächlichen nuklearen Vertragsverletzungen kritisieren – in Wahrheit haben sie doch den gleichen Plan: gegenüber China atomar aufzurüsten. Eine dazugehörende erneute atomare Aufrüstung in Europa ist aus ihrer Sicht nur ein hinzunehmender Kollateralschaden. Deutschland und Europa haben es also mit zwei atomaren Supermächten zu tun, für die Europa zweitrangig geworden ist. Innerhalb Europas sehen das vor allem die osteuropäischen EU- und Nato-Staaten mit Sorge, weil sie nicht daran glauben oder zumindest Zweifel daran haben, dass Westeuropa – insbesondere Deutsche und Franzosen – für ihre Freiheit zu sterben bereit wären. Exakt das aber ist der Inhalt der Beistandsverpflichtung im Artikel 5 des Nato-Vertrags, und da setzen diese Länder lieber auf die USA. Sollte es also tatsächlich wieder um die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa gehen, werden diese Länder dem Aufruf der USA sicher folgen, wogegen in Deutschland und anderen Teilen Westeuropas vermutlich massive politische Auseinandersetzungen und Regierungskrisen ausgelöst würden.

Die Debatte um den INF-Vertrag birgt also einen gewaltigen Sprengsatz für die Europäische Union in sich, die schnell alle Träume von einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zum Platzen bringen könnte. In der Nato konnte man schon einen Vorgeschmack davon bekommen. Dort nämlich stellte sich Nato-Generalsekretär hinter US-Präsident Donald Trump und machte sich dessen Vorwurf zu eigen, nur Russland verletzte den INF-Vertrag. Dabei gibt es auch in Dokumenten der Nato-Staaten – auch Deutschlands – deutliche Fragezeichen hinter mancher Behauptung aus den US-Geheimdienstkreisen. Die letzte Sitzung des Nato-Russland- Rats am 25. Januar hat keine Annäherung gebracht. In der Nato im Moment für Rüstungskontrolle einzutreten, ist wenig aussichtsreich. Zu groß war wohl die Angst, Trump noch mehr zu verärgern und seine Bereitschaft zur Abkehr von der Nato zu befördern.

Der wahre Gegner ist die Atommacht China

Welche Möglichkeiten bleiben uns also noch, um wenigstens den jetzt laufenden Automatismus zu stoppen und Zeit für Verhandlungen zu gewinnen? Zuerst einmal muss die Debatte innerhalb der EU beginnen. Sie steht bislang an der Seitenlinie, weil sie formell kein Verhandlungspartner ist und der US-Präsident vor seinen Entscheidungen nicht mal die Nato-Mitglieder informiert – geschweige denn die EU. Sie muss sich selbst ins Spiel bringen. Wegen der historisch bedingten Zweifel der Ost-Europäer an der Beistandsbereitschaft des Westens wird der erste Schritt sein müssen, deutlich mehr Verantwortung für die militärische Sicherheit dieser Länder zu übernehmen. Sprich: mehr europäische und damit auch deutsche konventionelle Truppenverbände in Osteuropa zu stationieren. Diese Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit in Osteuropa muss von Anfang an begleitet werden durch Dialoge und Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung zwischen Europa und Russland – und zwar ausdrücklich auch im nuklearen Bereich. Am Anfang steht die Rüstungskontrolle. Einladungen zur gegenseitigen Überprüfung der militärischen Fähigkeiten und Entwicklungen könnten helfen, Vertrauen zu schaffen. Das ist die Voraussetzung für Rüstungsbegrenzung und Abrüstung. Russland hat eine Öffnung seiner Arsenale zumindest verbal angeboten, freilich im Gegenzug Einsicht in die US-amerikanischen verlangt.
Was den INF angeht, ist die Überprüfung des russischen Waffensystems SSC-8 (9M729) natürlich absolut vordringlich. Die Inspektionen haben bis 2001 die Anerkennung sowohl der USA wie Russlands gefunden. Eine Revitalisierung der sogenannten Special Verification Commission wäre der richtige Weg. Das Problem: Eine Zustimmung der Russen ohne umgekehrte Erlaubnis, die US-Systeme zu inspizieren, ist schwer vorstellen. Zu groß ist das Interesse der USA an der Befreiung von jeglicher nuklearer Rüstungsbegrenzung, um sich auf die neue strategische Herausforderung China zu konzentrieren. Russland und Europa sind aus dieser Sicht zweitrangig. Trotzdem muss Europa und muss vor allem Deutschland innerhalb der Nato und gegenüber den USA unmissverständlich und unüberhörbar darauf drängen. Und schon eine konditionierte Zustimmung Moskaus zur Verifikation wäre ein hoffnungmachender Fortschritt.
Ob Russland bereit dazu ist, Rüstungskontrollen mit Europa auch im nuklearen Bereich zu vereinbaren, wird vermutlich nicht zuletzt von der Bereitschaft Frankreichs und Großbritanniens abhängen, im Gegenzug ebenfalls Rüstungskontrollen zuzulassen. Aber wer wie Frankreich will, dass Europa auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabhängiger von den USA wird, der wird bereit sein müssen, solche Schritte zu gehen.
Das Ziel muss sein, wieder zu einer verlässlichen europäischen Sicherheitsarchitektur zurückzukommen, die spätestens seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim und dem Bürgerkrieg in der Ost- Ukraine nicht mehr existiert. Dieser Konflikt muss dringend mindestens befriedet werden. Schlüssel dazu wäre eine UN-Blauhelmmission, die den Waffenstillstand durchsetzt und schwere Waffen aus der Ost- Ukraine herausbringt. Deutschland ist seit Januar 2019 Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Diese Blauhelmmission könnte seine überragende Aufgabe dort sein.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und mehrmaliger Bundesminister und ist Autor des Tagesspiegels.

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