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Moderne und Tradition stehen in Indien in einem Spannungsverhältnis, das nicht immer leicht aufzulösen ist. Die Regierung Modi versucht das Land trotzdem voranzubringen.

© Shutterstock / SasinTipchai

Indiens Ehrgeiz: Die unterschätzte Großmacht

Die Kanzlerin fliegt zu deutsch-indischen Regierungskonsultationen. Ihre Gastgeber wollen ihr Land rasant entwickeln. Doch es gibt viele Widerstände

Von Hans Monath

Es ist ein bisschen wie mit der magischen Tür im Märchen, durch die man in eine andere Welt tritt, wenn man den Zauberspruch kennt. Viel zu viele Autos, Motorräder, Handkarren und Motor-Rikschas quälen sich in der Drei-Millionen-Stadt Pune im westindischen Staat Maharashtra vorbei an Hochhäusern, Wellblech-Hütten und Plastikplanen-Zelten über eine Straße, die von Schlaglöchern übersät ist.

Bürgersteige gibt es keine. Neben der Fahrbahn versuchen Menschen in Sandalen schlammigen Pfützen auszuweichen. Mit bloßen Händen sortieren ein Mann und eine Frau auf einem Grundstück Plastik- und anderen Müll. Wenig weiter wühlen Schweine neben Wohnhäusern in Abfallhaufen. Es sind Szenen wie aus einem sehr armen Entwicklungsland.

Doch wer eine von Dauerhupen übertönte, stundenlange, chaotische Fahrt durch Pune hinter sich gebracht hat, geht am Rande der Stadt durch das gläserne Foyer von Tata Consultancy Services (TCS) und landet tatsächlich in einer anderen Welt, in der des 21. Jahrhunderts.

Einen streng abgeschotteten, hochmodernen Campus aus Glas, Stahl und Beton für rund 26.000 Mitarbeiter hat der Software-Konzern dort hochgezogen. In seinem Zentrum warten grüne Gärten, Sportstätten und Cafeterias auf erholungssuchende oder hungrige IT-Spezialisten. Und während draußen die schwül-warme Luft den Menschen den Schweiß auf die Stirn treibt, herrscht hinter den großen Scheiben angenehme Kühle. Die Firma könnte auch in Seattle, Den Haag oder Melbourne stehen. Ökologisch vorbildlich ist der Komplex zudem: Alles Regenwasser wird gesammelt, das Brauchwasser wiederaufbereitet.

TCS und sein Standort in Pune sind Aushängeschilder des modernen, aufstrebenden Indiens, das mit wachsendem Selbstbewusstsein seinen Platz in der Welt beansprucht – und das sowohl ökonomisch als auch politisch. Das weiß auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Mitte der Woche mit Kabinettsmitgliedern zu deutsch-indischen Regierungskonsultationen in das Land fliegt.

Angehörige der untersten Kaste sterben beim Latrinenreinigen

Noch tritt nur ein Bruchteil der 1,3 Milliarden Inder als Wettbewerber in der Weltwirtschaft an. Aber wenn es nach der Regierung in Delhi geht, werden es immer mehr sein. TCS etwa preist sich als weltweit zweit-profitabelstes Software-Unternehmen und hat in Europa im letzten Jahr seinen Umsatz um fast 18 Prozent gesteigert. So konkurrenzfähig, wie der expandierende Digital-Dienstleister heute schon ist, soll ganz Indien werden.

Die Werber von „Invest India“ können in ihrer Zentrale in Neu Delhi Schaubilder voller Versprechungen an die Wand projizieren, die Investoren anlocken sollen. Demnach will das Land bis zum Jahr 2025 nicht weniger als 400 Flugplätze, 20 Hochseehäfen, 111 Kanäle, mehr als 100 „Smart Cities“ und 10.000 Kilometer Bahnstrecken für Hochgeschwindigkeitszüge bauen.

Doch so eindrucksvoll und dynamisch sich Erfolgsgeschichten und Masterpläne lesen – so monströs scheinen die Widerstände gegen den Fortschritt, so rückständig sind die Lebensverhältnisse in großen Teilen Indiens. Während das Land Atomkraftwerke baut und eine Sonde namens Vikra zum Mond schickt, müssen Millionen von Indern ihre Notdurft im Freien verrichten, weil sie keine Toilette haben. Jeden Tag sterben in dem Land fünf Angehörige der untersten Kaste (Dalit), weil sie ohne jede Schutzausrüstung Latrinen und Kanäle reinigen müssen, wie das oberste Gericht jüngst monierte.

Die Mehrheit der Inder lebt noch immer abseits der großen Städte und versucht mit Agrarprodukten ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Anteil der Landwirtschaft an der indischen Wirtschaftsleistung sinkt seit Jahren (16,4 Prozent 2017/18), doch immer noch sind fast die Hälfte aller indischen Arbeitskräfte in diesem Bereich beschäftigt.

Wie rückständig Strukturen und Mentalitäten auf dem Land sind, zeigen schon die regelmäßigen Berichte über Lynchmorde in Dörfern. Für viele ist das Leben dort armselig. „Während es weltweit die meisten Millionäre und Milliardäre beheimatet, liegt Indien bei vielen Sozialindikatoren unter den Durchschnittswerten von Subsahara-Afrika“, schreibt das Auswärtige Amt in seinem Länderbericht.

Und obwohl die Wirtschaft seit der Regierungsübernahme von Premierminister Narendra Modi 2013 um sieben bis acht Prozent jährlich gewachsen ist und damit zu den am stärksten expandierenden Volkswirtschaften der Welt gehört, fällt es dem Land schwer, Arbeitsplätze für die jährlich zwölf Millionen neu auf den Arbeitsmarkt strömenden Inder zu schaffen. Zudem sind die Wachstumsraten der indischen Wirtschaft die jüngsten fünf Quartale über gesunken.

Die größte Demokratie der Welt, in der Dutzende von verschiedenen Ethnien und Anhänger mehrerer Religionen zusammenleben und allein 23 Amtssprachen gesprochen werden, wird von einer Regierung geleitet, die manche Analytiker im Westen als „hindu-nationalistisch“ bezeichnen.

Tatsächlich sind ihr Programm und ihre Regierungspraxis der indischen Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) durchaus geeignet, zusätzliche, neue Spannungen zwischen verschiedenen Volksgruppen zu provozieren, die sich schon in der Vergangenheit oft gewalttätig entladen haben. Dass Indien ein Land der Kontraste darstellt und es erstaunlich ist, wie solche Diversität überhaupt zusammengehalten werden kann, diese verbreitete Beschreibung ist auch im Jahr 2019 immer noch gültig. Seitdem die Regierung den Sonderstatus der Region Jammu und Kashmir widerrufen hat, sind die Spannungen zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan gewachsen. Deutsche Politiker sehen die Härte der Modi-Regierung in diesem Konflikt mit Sorge.

Wer in dem Land mit Politikern, Unternehmern, Thinktank-Mitarbeitern oder Journalisten spricht, spürt eine ausgeprägte Aufbruchstimmung und ein starkes Selbstbewusstsein: Die Vertreter von immerhin einem Fünftel der gesamten Weltbevölkerung wollen die Bedeutung ihres Landes in der Welt ausbauen – und sie wollen auch, dass dieser Zuwachs an politischer Präsenz und Einfluss im Ausland entsprechend gewürdigt wird.

Warum schaut Europa nur auf China, fragen die Inder

Deshalb schmerzt es indische Diplomaten, wenn europäische Medien zwar die Entwicklung in China sehr aufmerksam verfolgen, der in ihrem nicht weniger bevölkerungsreichen Land aber oft wenig Beachtung schenken. Dabei könnte die Größe der Volkswirtschaft das asiatische Land zu einem wichtigen Zukunftsmarkt und Handelspartner Deutschlands und Europas machen. Da die Geburtenrate nur langsam sinkt, wird der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 15 und 59 Jahren bis zum Jahr 2016 auf knapp 70 Prozent steigen.

Eine „demografische Dividende“ wird Indien damit aber nur dann einfahren können, wenn es seine jungen Menschen gut ausbildet, wozu massive Investitionen notwendig wären. Glaubt man Plakaten in Neu Delhi, dann hat die Regierung ihre Aufgabe erkannt. Darauf verkündet Modi: „Let's make India the skill capital of the world!“ („Machen wir Indien zur Weltzentrale für Bildung!“). Sofern es seine Chancen nutzt, könnte Indien in absehbarer Zeit nicht nur China überholen und damit das bevölkerungsreichste Land werden, sondern auch mit seinem Bruttoinlandsprodukt nach China und USA weltweit auf den dritten Platz aufsteigen.

Die Ungleichbehandlung stört Inder mit Kontakten nach Europa umso mehr, als ihr Land China als politischen Rivalen betrachtet. Das chinesische Projekt einer neuen „Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“) von Shanghai nach Duisburg sehen viele Inder nicht als Entwicklungschance, sondern als Versuch, beteiligte Länder von Peking abhängig zu machen. Ein „koloniales Unternehmen“ nannte die Zeitung „Times of India“ das Vorhaben.
Erzrivale Pakistan sucht enge Beziehungen zum Land der Mitte aufzubauen – ausgerechnet das Land, das laut dem indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar „Terroristen wie am Fließband produziert“. Indern dagegen ist es ein Dorn im Auge, dass China seine Wirtschaft leistungsfähiger und sein Militär stärker machen konnte als das eigene und es mit mehreren Stützpunkten rund um ihren Subkontinent („Perlenkette“) seinen Einfluss in den indischen Ozean hinein ausdehnt.

Indische Experten erklären den Entwicklungsunterschied unter anderem damit, dass Indien eine Demokratie ist und China eine Ein-Parteien-Diktatur. „China ist ein autokratisches System“, sagt Gautam Chikermane, Vizepräsident des Thinktanks Observer Research Foundation (ORF) in Neu-Delhi. Der ehemalige Wirtschaftsjournalist macht deutlich, dass er stolz ist auf die Freiheit und Mitbestimmung in seinem Land: „Die Demokratie macht jeden Fortschritt langsamer“, räumt er ein, um sofort nachzuschieben: „Wir entwickeln uns sehr langsam, aber wir entwickeln uns sicherer als die Chinesen.“

Auf den Fortschritt ist auch Außenminister Jaishankar stolz. „Unser Land ist mitten in einem sehr großen, sehr vielschichtigen Wandlungsprozess“, erklärte er kürzlich europäischen Journalisten. Die gerade wiedergewählte BJP-Regierung sei „optimistisch, dass wir in fünf Jahren Ergebnisse liefern können“.

Tatsächlich hat Indien seit der Öffnung des Landes für ausländische Investitionen Anfang der 90er Jahre erheblich aufgeholt. Zwar führt die Weltbank Indien in der Tabelle der Länder, die Geschäftsleuten gute Bedingungen bieten, gegenwärtig nur auf Platz 77. Doch in kurzer Zeit ist das Land in dieser Übersicht um 56 Plätze nach oben gerückt.

Auch in der Welt will Modi das Gewicht seines Landes spürbarer machen. Doch in Indien kämen „Großmacht-Ambitionen zusammen mit den Ressourcen einer Mittelmacht“, warnt Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Industrialisierung stagniere, die ökonomische Basis reiche nicht, um mehr in eine offensive Außenpolitik zu investieren.

Die Armut gehört dazu: Ein Bauer lässt sich als Zeichen des Protests gegen niedrige Preise und Schulden den Kopf scheren.
Die Armut gehört dazu: Ein Bauer lässt sich als Zeichen des Protests gegen niedrige Preise und Schulden den Kopf scheren.

© AFP

Auch der gemeinsame Gestaltungswille der Schwellenländer und BRICS-Staaten (Brasilien, Indien, China, Südafrika) scheint etwas erlahmt, die sich zusammengeschlossen hatten, um die Welt nach ihren Interessen zu verändern. Aber gemeinsam mit Deutschland, Japan und Brasilien verfolgt Indien weiter das Ziel, den VN-Sicherheitsrat zu reformieren und dort einen ständigen Sitz zu erobern.

Die Einladung Deutschlands und Frankreichs, der Allianz für den Multilateralismus beizutreten, nahm die Regierung Modi nach einigem Zögern an. Zwar scheute sie offenbar zunächst die Aussicht, Mitglied in einem Club zu werden, den die Regierung Donald Trump als Gegenmacht zu den USA ansehen muss. Doch auch Indien hat sich einer regelbasierten Weltordnung verschrieben.

Die indische Mondfähre Vikram landete kürzlich tatsächlich auf dem Mond, allerdings war der Aufprall so heftig, dass jeder Kontakt zur Erde abgerissen ist. Dem Zukunftsoptimismus vieler Inder hat der Rückschlag nichts anhaben können.

Denn auch das Chaos gehört zu dem Land, wie der indische Journalist Ruchmir Sharma in seinem Buch „Democracy on the Road“ festgehalten hat. Das Grundprinzip von Gesellschaft und Politik in seiner Heimat brachte er auf die Formel: „Unorganisiert, chaotisch, ständig vom Scheitern bedroht, aber wie durch ein Wunder funktioniert es doch.“ Das Land muss hoffen, dass diese Beschreibung auch für die Entwicklung gilt, die es sich vorgenommen hat.

Der Text basiert unter anderem auf einer Informationsreise nach Indien für Journalisten, zu der das indische Außenministerium eingeladen hatte.

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