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Macht es Spaß? Hoffentlich! Ein Kind beim Lesen.

© picture alliance / Westend61

Lese-Studie IGLU : Ein Viertel der Viertklässler in Deutschland verfehlt Mindeststandard beim Lesen

Eine neue internationale Vergleichsstudie zeigt, wie es um die Lesekompetenz von Kindern in der vierten Klasse bestellt ist. Die Ergebnisse sind für Deutschland dramatisch.

| Update:

Eine neue internationale Vergleichsstudie zeigt, wie es um die Lesefähigkeit von Kindern in der vierten Jahrgangsstufe steht. Für die deutsche Bildungspolitik sind die Ergebnisse der Untersuchung „IGLU 2021“ wieder einmal keine gute Neuigkeit: Deutschland liegt nur im Mittelfeld und die Lesekompetenz der Kinder ist zuletzt deutlich gesunken.

Außerdem sind die Leistungsunterschiede zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Kindern hoch. „In zwanzig Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland praktisch nichts verändert“, schlussfolgern die Autorinnen und Autoren der Studie.

So gut können Viertklässler in Deutschland lesen
So gut können Viertklässler in Deutschland lesen

© Tsp/Bartel | Quelle: IGLU-Studie 2021, eigene Darstellung

Ein weiterer deprimierender Befund: Mittlerweile erreicht ein Viertel der Kinder nicht den Mindeststandard, den es für eine weitere erfolgreiche Schulkarriere bräuchte. Dabei geht es darum, den Übergang vom „Lesen lernen“ zum „Lesen, um zu lernen“ zu bewältigen. Das ist gegeben, wenn ein Kind von fünf Kompetenzstufen mindestens die dritte bewältigt.

So reagiert die Politik

Die Studie wurde am Dienstag in Berlin offiziell vorgestellt. Dabei sagte Sabine Döring, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung: „Ein Weiter-so darf es unter keinen Umständen geben. Wir brauchen dringend eine bildungspolitische Trendwende.“ Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ließ mitteilen, gut lesen zu können, sei Fundament für Bildungserfolg. „Es ist alarmierend, wenn ein Viertel unserer Viertklässlerinnen und Viertklässler beim Lesen als leistungsschwach gilt.“

Bei der Pressekonferenz sprach auch Katharina Günther-Wünsch (CDU), neue Schulsenatorin in Berlin und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz. Sie sagte, die Ergebnisse kämen nicht vollkommen überraschend. Die Pandemie erkläre einen Teil, aber nicht alles. Die Studie zeige die Bedeutung der Familiensprache zu Hause. Es gelte, Antworten auf die wachsende Heterogenität der Schülerschaft zu finden. Dabei sei nicht nur die Bildungspolitik gefragt, sondern auch andere Politikfelder.

Katharina Günther-Wünsch (CDU), neue Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie
Katharina Günther-Wünsch (CDU), neue Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie

© picture alliance/dpa/Michael Kappeler

In der Planung ist derzeit ein Startchancen-Programm, um Schulen in schwieriger Lage gezielt zu fördern. Allerdings sind sich Bund und Länder über die Ausgestaltung noch nicht einig.

Der Bund ist grundsätzlich bereit, für die nächsten zehn Jahre eine Milliarde Euro pro Jahr zu investieren, wenn die Länder das auch tun. Außerdem fordert Ministerin Stark-Watzinger, dass das Geld gezielt dorthin geht, wo der Bedarf am größten ist, gemessen beispielsweise an der Quote von Kindern, die von Transferleistungen leben.

Die Länder hingegen stehen der Forderung, dass sie das Programm kofinanzieren sollen, skeptisch gegenüber. Außerdem möchten sie, dass 95 Prozent der Mittel nach Königsteiner Schlüssel verteilt werden.

Wir müssen zukünftig dringend sicherstellen, dass alle Kinder am Ende der Grundschulzeit über ausreichende Lesekompetenzen verfügen.

Nele McElvany, wissenschaftliche Leiterin des deutschen Teils der Studie

Dann bekämen jene Länder mit hoher Wirtschaftskraft und vielen Einwohnern viel Förderung – damit würden aber nicht bevorzugt Brennpunktschulen erreicht. Eine Lösung des Streits ist derzeit nicht absehbar. Doch die Ergebnisse der IGLU-Studie machen die Dringlichkeit des Problems noch einmal deutlich.

„IGLU zeigt zum wiederholten Male, dass wir gezielt dort fördern müssen, wo Bedarf ist. Bei der Mittelverteilung ist eine Abkehr vom Königsteiner Schlüssel daher unabdingbar“, sagte dazu am Dienstag Nina Stahr, Sprecherin für grünen Bundestagsfraktion für Bildung. Bund und Länder sollten sich zeitnah auf gemeinsame Eckpunkte für das Startchancen-Programm einigen. „Für öffentlich ausgetragene Kompetenzrangeleien ist die Lage zu dramatisch.“

Wissenschaftliche Leiterin des deutschen Teils der Studie ist die Schulentwicklungsforscherin Nele McElvany, Professorin an der Technischen Universität Dortmund. Sie sagte am Dienstag, die Lesekompetenz sei zentrale Grundlage für das schulische Lernen, aber auch für die gesellschaftliche Teilhabe und allgemein den weiteren Lebensweg. McElvany erhob fünf Forderungen.

  • Erstens müsse die Priorität in den frühen Schuljahren klar auf die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen gelegt werden. Es komme dabei auch auf die Menge des Lesens im Unterricht an, die zu steigern sei.
  • Zweitens brauche es einerseits einen hochwertigen Leseunterricht für alle, andererseits aber auch gezielte Förderung in Kleingruppen für Kinder mit Kompetenzrückständen.
  • Drittens müsse die individuelle Förderung mit systematischer Diagnostik verknüpft werden, damit überhaupt klar ist, welche Kinder zusätzliche Unterstützung benötigen.
  • Viertens müssten die Grundschullehrkräfte gezielt für die Lese- und Sprachförderung aus- und weitergebildet werden.
  • Fünftens komme es darauf an, Kinder schon im Kita-Alter so zu fördern, dass ein erfolgreicher Schulstart überhaupt möglich sei.

„Wir müssen zukünftig dringend sicherstellen, dass alle Kinder am Ende der Grundschulzeit über ausreichende Lesekompetenzen verfügen“, forderte McElvany.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

  • In der vierten Jahrgangsstufe liegt die mittlere Lesekompetenz in Deutschland bei 524 Punkten. Das liegt im Mittelfeld der 65 Teilnehmerstaaten und -regionen. An der Spitze liegt Singapur mit einem Wert von 587, Schlusslicht ist Südafrika mit einem Wert von 288. Der Mittelwert sowohl für die EU- als auch für die OECD-Staaten liegt bei 527, also sehr nah am deutschen Wert.
  • Seit 2001 wird die Untersuchung alle fünf Jahre durchgeführt. Im Jahr 2001 lag die mittlere Lesekompetenz in Deutschland noch bei 539 Punkten, im Jahr 2016 waren es noch 537. Seitdem gab es also eine signifikante Verschlechterung.
  • Über die Standardabweichung lässt sich berechnen, wie groß der Leistungsunterschied zwischen starken und schwachen Schülerinnen und Schülern ausfällt. Dieser Wert liegt für Deutschland bei 77, und damit im Vergleich hoch. 2001 sah es mit einem Wert von 67 noch etwas besser aus, im Vergleich zu 2016 hat sich kaum etwas verändert. Damals lag der Wert bei 78.
  • In der Studie wird zwischen verschiedenen Kompetenzstufen von I bis V unterschieden. Wer nur die Stufe I oder II erreicht, ist – so die Annahme – nicht für die höheren Klassenstufen gewappnet. Der Anteil der Kinder, auf die das zutrifft, liegt in Deutschland mittlerweile bei 25,4 Prozent. Das ist deutlich mehr als noch 2016. Damals waren es 18,9 Prozent. Im Jahr 2001 waren es 17 Prozent. Am unteren Ende des Leistungsspektrums haben sich also in den vergangenen Jahren Probleme verfestigt.
  • Untersucht wurde auch, welche Empfehlungen Lehrkräfte für den weiteren Bildungsweg der Kinder geben und welchen weiteren Weg sich Eltern wünschen. Dabei zeigte sich ein substanzieller Zusammenhang zur sozialen Herkunft der Kinder. Sind Lesekompetenz und kognitive Fähigkeiten gleich gut ausgeprägt, ist die Chance, es aufs Gymnasium zu schaffen, also auch vom sozialen Hintergrund eines Kindes abhängig.
  • Die Lesemotivation der Kinder hat sich zwar tendenziell verringert, ist aber nach wie vor hoch. Mädchen haben mehr Freude am Lesen als Jungen. Die Lesezeit deutscher Kinder im Unterricht pro Woche ist im Vergleich eher niedrig. Es sind im Schnitt 141 Minuten, für alle OECD-Staaten liegt dieser Wert bei 205 Minuten. Die Digitalisierung ist in Deutschland auf niedrigerem Niveau als im Schnitt der untersuchten Staaten.
  • Positiv zu bemerken ist, dass die Kinder im Mittel mit ihrer Schule zufrieden sind und gern dorthin gehen.

Für die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) wurde die Lesekompetenz von 4611 Kindern aus 252 vierten Klassen in Deutschland untersucht, und auch Lehrkräfte, Eltern und Schulleitungen wurden befragt. International beteiligten sich mehr als 400.000 Kinder.

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Eingeteilt wird die Lesekompetenz in fünf Stufen: Stufe I bezeichnet ein „rudimentäres Leseverständnis“, Stufe II bedeutet: „Explizit angegebene Informationen identifizieren und auf lokaler Ebene Kohärenz herstellen“.

Auf Stufe III gelingt es Kindern, verstreute Informationen miteinander zu verknüpfen. Auf Stufe IV können sie auch komplexe Schlüsse ziehen, Stufe V ist wie folgt definiert: „Unter Bezug auf Textpassagen beziehungsweise den Gesamttext Informationen ordnen und Aussagen selbstständig interpretierend und kombinierend begründen.“

Wegen der Corona-Pandemie konnte nur in 37 der teilnehmenden Staaten und Regionen – einschließlich Deutschland – die Datenerhebung in den Schulen wie geplant im Frühjahr 2021 durchgeführt werden (Welle 1). Das wird beim Vergleich der Ergebnisse berücksichtigt: Beim Vergleich Deutschlands mit EU- und OECD-Daten zählt nur die Vergleichsgruppe aus Welle 1.

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