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Ein Demonstrant ruht sich hinter den Barrikaden nahe des Maidan aus.

© dpa

Konflikt in der Ukraine: Hinter den Barrikaden

"Fort mit den Kriminellen" - das fordern die Ukrainer auch am Freitag. Präsident Janukowitsch hat sich zu Neuwahlen bereit erklärt, die inhaftierte Oppositionsführerin Timoschenko soll wohl freigelassen werden. Es könnte ein Durchbruch sein. Doch das reicht vielen Aktivisten nicht.

Es ist ein Verhandlungsmarathon ohnegleichen: Nach über vier Stunden am Donnerstagnachmittag sitzen der ukrainische Präsident, die drei Oppositionsführer, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Kollege Radoslaw Sikorski sowie der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin auch die ganze Nacht zu Freitag in Verhandlungen. Der Freitagmorgen beginnt dann mit hoffnungsvollen Nachrichten: Das Präsidialamt erklärt, die politischen Führer hätten sich auf ein Dokument zur Lösung der politischen Krise geeinigt.

Tumultartige Szenen im Parlament

92 Tage nach Beginn der Demonstrationen gegen Viktor Janukowitsch, die sich über die letzten Wochen zu einem blutigen Aufstand entwickelt hatten, scheint es endlich der erhoffte Durchbruch zu sein. Janukowitsch erklärt sich zu vorgezogenen Neuwahlen bereit, das Land kehrt zur Verfassung von 2004 zurück, die seine Vollmachten massiv beschneidet. Aber wenig später herrscht schon wieder Verwirrung: Im Parlament spielen sich am Morgen tumultartige Szenen ab, wie man sie aus der ukrainischen Rada der vergangenen zwei Jahrzehnte zur Genüge kennt. Oppositionelle stürmen das Rednerpult, eine ganze Stunde lang schubsen sich Regierungstreue und Oppositionelle hin und her, beschimpfen sich gegenseitig. Der Parlamentspräsident erklärt, dass ein Gesetz über eine Amnestie und eines über die Rückkehr zur Verfassung von 2004 verabschiedet werden müsse, aber wie genau diese Gesetze aussehen sollen, ist zunächst unklar. Das Parlament hat außerdem die Weichen für eine Freilassung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko gestellt. Die Oberste Rada stimmte am Freitag in Kiew dafür, die Vorwürfe gegen die Ex-Regierungschefin nicht mehr als Straftaten zu werten.

Abgeordnete wenden sich von Janukowitsch ab

Gleichzeitig scheinen sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Opposition zu verschieben: Am Donnerstag und Freitag erklärten 20 Abgeordnete den Austritt aus der Fraktion von Janukowitschs „Partei der Regionen“. Vitali Chomutynnik etwa verkündet seine Entscheidung am Freitagnachmittag auf Twitter: „Wenn wir uns vereinigen, ohne Rücksicht auf politische Einstellungen, glaube ich, dass wir einen Bürgerkrieg noch aufhalten können.“

Zur gleichen Zeit hatten 31 Parlamentsabgeordnete der Präsidentenpartei erklärt, sie würden innerhalb der Fraktion eine eigene Gruppe bilden, anführen soll den Block der ehemalige Wirtschaftsminister und Präsidentschaftskandidat von 2010 Sergej Tigipko. Er erklärte: „Wir werden die Fraktion nicht verlassen, sondern stärker als bisher unsere Meinung vertreten.“ Experten werten den Schritt unterschiedlich. Tigipko gilt als Ministerpräsident in einer Übergangsregierung. Es könnte sein, dass Tigipko seine Eigenständigkeit herausstellen will, es ist aber auch denkbar, dass diese Blockbildung innerhalb der Präsidentenpartei nur Kosmetik ist.

Die ukrainische Verfassung sieht zudem nur drei Möglichkeiten für vorgezogene Neuwahlen vor: Den Tod des Präsidenten, seinen freiwilligen Rücktritt oder einen Misstrauensantrag durch das Parlament. Von einem Rücktritt Janukowitschs war jedoch am Freitag nicht die Rede. Während in der Werchowna Rada, dem Parlament unter großem Jubel dann doch die Einführung der alten Verfassung von 2004 angenommen wurde.

Die Demonstranten wollen den Rücktritt des Präsidenten

Doch die Redner auf der Bühne des Maidan, unterstützt von Tausenden, fordern auch am Freitag immer und immer wieder den Rücktritt des Präsidenten. „Selbst wenn es Neuwahlen im Dezember geben wird, müssten wir noch ein Dreivierteljahr mit ihm als Präsidenten leben?“, schimpft ein Redner.

Die Oppositionsführer werden auf dem Maidan am Abend trotz der großen Erfolge ausgepfiffen: Ein Aktivist unterbricht Vitali Klitschko während seiner Rede und stellt unter dem Jubel der anwesenden Regierungsgegner ein Ultimatum: Wiktor Janukowitsch müsse bis 10 Uhr am Samstagmorgen zurücktreten.

Immerhin ringen die Oppositionellen in Begleitung von Steinmeier und Sikorski dem „Rat des Maidan“ am Nachmittag eine Erklärung ab, in der sie sich mit der mit Janukowitsch ausgehandelten Vereinbarung einverstanden erklären.

Die Todeszone ist wieder sicher

Tote und Verletzte gibt es nach dem blutigen Donnerstag am Freitag nicht mehr. Die Regierungsgegner nutzen die Zeit, um die Barrikaden an den Zugängen zum Platz auszubauen. Bestanden die Barrikaden zuvor noch aus mit Schnee gefüllten Säcken, füllen die Demonstranten die Säcke nun mit Steinen. Ab dem Nachmittag ist auch der Bereich oberhalb des Hotels „Ukraina“ wieder sicher. Am Donnerstag war das die Todeszone gewesen: Scharfschützen erschossen hier mehrere Menschen und verletzten Dutzende, als diese versuchten, zur nächsten Barrikade vorzudringen. Jetzt nehmen die Regierungsgegner auch die nächste Barrikade auf der Institutska-Straße ein – von hier sind es keine fünfhundert Meter zur Präsidialverwaltung.

Am frühen Abend beginnt auf dem Maidan eine Trauerzeremonie. Priester auf der Bühne würdigen jeden Toten einzeln, dann folgen Gebete, Gesänge. Die Menschenmenge auf dem Maidan ist sehr groß, vielleicht die größte Ansammlung seit Beginn der Proteste Ende November. Viele der Teilnehmer sind aus der Westukraine gekommen: Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche, alle Alters- und Bevölkerungsschichten. Die Stimmung ist sehr ergreifend, man rückt zusammen. Viele weinen, auch die Männer.

Immer mehr Läden mussten schließen

In der Kiewer Innenstadt wurden in den vergangenen Tagen immer mehr Gebäude von den Protestlern besetzt. Waren es anfangs die Büros öffentlicher Einrichtungen, sind es nun auch Ladengeschäfte und Lokale. Bis vor wenigen Wochen hat die Mehrheit der Demonstranten in Zelten gelebt, nun ist eine erhebliche Anzahl von Gebäuden rund um den Maidan und am Kreschtschatik von den Demonstranten besetzt. Am Freitag konnte man sehen, wie die Aktivisten sich in den Gebäuden einrichteten, wo bis vor wenigen Tagen noch Cafes, Bekleidungsgeschäfte oder Niederlassungen von Mobilfunkbetreibern ihre Dienste anboten. In den vergangenen Wochen hatten immer mehr Läden geschlossen, seit den gewaltsamen Zusammenstößen Anfang der Woche haben alle kommerziellen Anbieter ihre Bestände weggeschafft und die Läden geschlossen.

Seit Donnerstagabend kontrollieren Regierungsgegner auch die Zufahrtstraßen zu den zwei Kiewer Flughäfen. Per Telefon berichtet Walerij, der Kommandant der Posten am Flughafen Schuljany, dass etwa 50 Regierungsgegner sich auf drei Kontrollpunkte verteilt hätten: „Wir versuchen, die Insassen aller durchfahrenden Autos zu kontrollieren.“ Grund dafür seien Informationen über mehrere Dutzend geplante Charterflüge. „Wir vermuten, dass Abgeordnete der Regierung, Minister und korrupte Richter mit ihrem zusammengeraubten Besitz ins Ausland fliehen wollen“, sagt er. Allerdings seien sie nicht befugt, Passagiere an der Durchfahrt zu hindern. „Wir halten nur fest, wer hier durchfährt.“

Moritz Gathmann, einer der Autoren dieses Textes, hat für das Osteuropamagazin Ostpol einen sehr persönlichen Bericht seines Einsatzes auf dem Maidan geschrieben. Hier können Sie ihn lesen.

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