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Das neue Flüchtlingslager Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos.

© imago

Für welche und wessen Werte steht denn die EU?: Europa sollte den Friedensnobelpreis zurückgeben

Ein Rettungsschirm für Flüchtlinge - das wäre Europas würdig. Stattdessen regieren Abschottung und Nationalstaaterei. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Mit Zwanzig war ich kurz mit einem Historiker zusammen. Er erklärte mir, dass Geschichte nichts weiter sei als eine Kausalkette aus Zufällen und Interessen. Der Grund, warum ich mich schließlich in ihn verliebte, war, dass ich noch nie jemanden so romantisch über Europa hatte reden hören.

In der griechischen Sagenwelt, säuselte er, sei Europa die phönizische Königstochter von Agenor gewesen. Zeus, der oberste olympische Gott, habe sich in Europa verliebt und sie auf die Insel Kreta entführen lassen. Dafür verwandelte er sich in einen Stier und schwamm auf die griechische Insel. Dort angekommen, verwandelte er sich zurück in seine Menschengestalt und machte Europa zu seiner Frau und zur Königin von Kreta.

Ich erzähle das so ausführlich, weil ich mir vorgenommen hatte, dass ich, wenn ich mal eine Tochter bekommen sollte, sie Europa nennen würde.

Ich musste neulich wieder an den Historiker denken, als ich die Vorschläge des neuen europäischen Migrationspaktes las. Wie froh ich bin, dass ich mich vor 13 Jahren doch für einen anderen Namen für meine Tochter entschieden habe. Hieße meine Tochter Europa, stünde ihr Name heute für Unmenschlichkeit, Uneinigkeit, Abschottung und Egoismus.

Stand Europa nicht einmal für Frieden?

Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, fasste das Papier so zusammen: „Dies ist ein teuflischer Pakt der Entrechtung.“ Von Rechtspopulisten getrieben, verrate die EU-Kommission das Asylrecht und die Menschenrechte von Schutzsuchenden.”

Stand Europa nicht mal für Frieden? Für humanistische Werte? War das nicht der Grund, warum ich immer zuerst gesagt habe, ich bin Europäerin und dann erst Deutsche? Wenn man sich anschaut, wofür die ersten Länder, dies sich zusammenschlossen, standen, ist das für mich der Ursprung Europas. Stark ist man nicht durch Größe, stark ist man durch wahre Verbundenheit und gemeinsame Werte. Europa hätte so ein großartiges Vorbild für die restliche Welt sein können, es hätte zeigen können, wie man wirtschaftlichen Aufschwung, soziales Miteinander, Demokratie und Freiheit in einer gesunden Umwelt leben kann. Hätte.  

Es wäre mit dem ganzen Wohlstand sogar machbar gewesen. Stattdessen ist Europa zu einer eifersüchtigen Nationalstaaterei verkommen, zu einer Abschiebehaftinsel mit hermetisch abgeriegelten Außengrenzen und mit einer vor dem Markt kuschenden Kommission.

Es wäre Zeit für einen Rettungsschirm für Flüchtlinge

Erinnert sich noch jemand daran, wie die Verursacher der Wirtschaftskrise mit finanziellen Rettungsschirmen belohnt wurden? Mit dem Geld hätte man alle Flüchtlinge der Welt versorgen können. Erinnert sich noch jemand daran, wie Schritt für Schritt die Renten gekürzt, die Gesundheitsversorgung gekappt und den Investoren öffentliches Eigentum für einen Euro hinterhergeworfen wurde? Aber ja nicht müde werden, immer wieder zu betonen, für welche menschlichen Werte man doch stehe. Welche Werte eigentlich? Die der Banken? Der Versicherungen? Der Konzerne?

Nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria, das es auf europäischen Boden gar nicht hätte geben dürfen, hatte Europa die einmalige Chance, sein humanes Gesicht zu zeigen. Aber laut dem Migrationspakt sollen Flüchtlingslager wie Moria die Regel statt die Ausnahme in Europa werden.

Ich habe noch mal geschaut, welche Bedeutung Europa noch hat. Europa stammt vom Wort „erebos“ ab. In der griechischen Mythologie steht Erebos für den Gott der Finsternis. Oder wie es der Präsident der Caritas, Peter Neher, zusammenfasst: „Statt Solidarität und geteilter Verantwortung liegt der Fokus ganz klar auf Abwehr und Abschottung.” Höchste Zeit, deinen Friedensnobelpreis zurückzugeben, Europa.

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