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Nach Attacke auf Wen Jiabao: Freispruch für den deutschen Schuhwerfer von Cambridge

Der deutsche "Schuhwerfer von Cambridge" wurde von einem englischen Gericht freigesprochen. Seine Attacke auf den chinesischen Premier Wen Jiabao war vom Schuhwurf auf George W. Bush in Bagdad inspiriert gewesen.

Wie ist dieser Fall nur vor Gericht gekommen - in England, das sich eigentlich so gut versteht auf das gekonnte Sich-aus-der-Affäre-Ziehen, auf die “diplomatische”, verwischende Sprachregelung, auf die sprichwörtlich elegante Lösung ohne Prozesshanselei?

Am 2. Februar blies der deutsche Doktorand Martin Jahnke, der am Pathologie-Institut von Cambridge an einem genetischen Forschungsprojekt arbeitet, kurz vor dem Ende einer 45minütigen Rede (“China im Lichte seiner Entwicklung betrachtet”) des chinesischen Premierministers Wen Jiabao eine dunkeltönende Trillerpfeife. Dann empörte sich der 27 Jahre alte Student lautstark, wie sich die renommierte, 800 Jahre alte Universität mit “diesem Diktator prostituieren” und “all seinen Lügen” zuhören könne. Während das Publikum mit Unmut auf die Störung reagierte, und Universitätsbedienstete Jahnke des Saales verweisen wollten, gelang es ihm noch, einen Turnschuh in Richtung Wen Jiabao zu werfen, der den Premier aber um mindestens einen Meter verfehlte.

Diese Nachahmungstat - Vorbild war der irakische Journalist Muntazer al-Zaidi, der den damaligen US-Präsidenten George W. Bush knapp zwei Monate vorher in Bagdad bei einer Pressekonferenz mit beiden Schuhen beworfen hatte (“Das ist der Abschiedskuss des irakischen Volkes, Du Hund!”), danach gefoltert und zu drei, später zu einem Jahr Haft verurteilt worden war - wird seit Montag im Gerichtssaal 4 des Amtsgerichts von Cambridge verhandelt. Denn die Polizisten, die Jahnke festnahmen und verhörten, klagten ihn gleich eines Verbrechens gegen die öffentliche Ordnung an, statt es bei einer Verwarnung zu belassen und ohne den Fall wie eigentlich üblich der Staatsanwaltschaft zu übertragen. Die wiederum sah auch bei mehrmaligen Prüfungen keinen Grund, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, obwohl selbst Wen Jiabao für Nachsicht plädiert hatte. Und Jahnke, ohne den Vorfall zu bestreiten, bezeichnete sich beharrlich als “nicht schuldig”.

Der Schuhwurf war nur eine Protest-Option

Dabei bleibt Jahnke, der 1981 in der DDR geboren worden war und aus pazifistischer Überzeugung Zivildienst leistete, auch im Kreuzverhör vor Gericht am Dienstag, in das er sich freiwillig begeben hat. “Ich wollte symbolisch gegen die Anwesenheit des Premierministers von China protestieren und Solidarität mit dem chinesischen Volk zeigen”, sagt der Deutsche mit ruhiger, leiser Stimme und in gutem Englisch. Das Schuhwerfen sei kein aggressiver Akt gewesen, im Gegensatz zu dem, was die Staatsanwaltschaft behauptet. Er sei von dem irakischen Schuhwerfer inspiriert gewesen und sehe seine Tat als “Symbol des Widerstands gegen ein Regime, das niemandem verantwortlich sei und mit Gewalt regiere.”

Trotz kalten Wetters habe er die leichten Laufschuhe getragen, ihr Werfen sei nur eine Option gewesen. Er hätte erwartet, dass auch andere Studenten im Publikum protestieren würden, denen hätte er sich dann angeschlossen; oder dass sie ihm nach seinem Protest unterstützen und vielleicht den Saal verlassen würden, sagt Jahnke. Als es dazu nicht kam, habe er den Schuh geworfen, ohne Absicht, jemanden zu verletzten oder zu erschrecken.

Der Angeklagte im Glaskäfig - die Tür nur angelehnt

Zuvor sitzt Martin Jahnke mit angestrengter Miene bei Beginn der Hauptverhandlung nun im dunklen Anzug, mit blau-schwarz-gestreifter Krawatte und festen, schwarzen Straßenschuhen auf der Anklagebank, in einem deplatziert wirkenden Glaskäfig, dessen Tür als eine Art Kompromiss angelehnt bleibt. Derweil sucht sein oft unsicher wirkender Verteidiger, Tom Wainwright, zunächst noch einmal, den Prozess zu stoppen: Das Verfahren sei nicht zulässig wegen politischer Einflussnahme auf die Ermittlungen. Doch der ungeduldige Richter Ken Sheraton urteilt schnell und klar: Dafür gibt es keine Beweise.

Danach argumentiert Staatsanwältin Caroline Allison, mit dem Werfen des Schuhs habe Jahnke die Grenze vom legitimen, friedlichen Protest zu einer Gewalttat überschritten. Eher mühsam gerät allerdings der Versuch, zu belegen, dass tatsächlich ein Verstoß gegen Abschnitt 4A des “Public Order Act” vorliegt – dass Jahnke mit seinem Verhalten  absichtlich für “Bedrohung, Schrecken und Leid” gesorgt hat, strafbar mit bis zu einem halben Jahr Gefängnis, oder einer Geldbuße von bis zu 5000 Pfund, oder beidem.

"Verängstigt und geschockt"

Das primäre Opfer, Premier Jiabao, ist als Zeuge nicht vorgesehen. Zwei bei der Rede anwesende Studenten bestätigen allerdings, Martin Jahnkes Verhalten sei furchteinflößend gewesen - nicht ohne komische Momente. “Bumm” habe es gemacht, als der Schuh zu Boden ging, sagt Hongwei Wang aus, Doktorand der Ingenieurwissenschaft und Vizepräsident der “Chinesischen Gelehrten- und Studenten-Vereinigung” (CSSA) in Cambridge, auf die Frage, wie er den Schuhwurf erlebt habe. “Verängstigt und geschockt” habe das Publikum gewirkt, gibt Tongyan Lee zu Protokoll, auch er Mitglied der CSSA.

Wie die Befragung durch Wainwright ergibt, haben beide allerdings erst Wochen nach dem Vorfall ihre Erlebnisse erstmals beschrieben, nach Aufforderung einer Londoner Anwaltskanzlei, die offenbar für die chinesische Botschaft in London arbeitete - und die allem Anschein nach der Staatsanwaltschaft die Arbeit abnahm. Auch die Aussagen von Polizeibeamten und Personenschützern bleiben später eher unergiebig.

Ein Rätsel, so ist schon vor der Urteilsverkündung klar, wird ohnehin auch der Prozess nicht lösen: was aus dem “corpus delicti” geworden ist. Martin Jahnkes Turnschuh, räumt die Staatsanwaltschaft ein, sei seit der Tat verschollen.

Das Urteil war für Jahnke erfreulich: Freispruch. Doch der Richter gab dem Deutschen noch eine Mahnung mit auf den Weg. Jahnke verlasse das Gericht mit einem Freispruch, aber ebenso mit einer Warnung für sein zukünftiges Verhalten. So ist das Ende der Geschichte dann doch typisch englisch.

Henning Hoff[Cambridge]

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