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Kinder retten Kinder. Dieses Foto vom Brand des Lagers Moria auf Lesbos zeichnete Unicef als Foto des Jahres 2020 aus.

© Angelos Tzortzinis/AFP

Update

Flüchtlingslager in der Ägäis: Sachverständige halten Hotspot-System für kaum reformierbar

Der EU-Türkei-Deal wird diese Woche fünf Jahre alt. Statt Griechenland zu helfen, hat er die Probleme der fehlkonstruierten EU-Asylpolitik offenbar verschärft.

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) stellt fünf Jahre nach der EU-Türkei-Erklärung zum Migrationsmanagement dem EU-System in der Ägäis ein vernichtendes Urteil aus. In einem jetzt veröffentlichten Policy Paper der Denkfabrik, die seit kurzem vom Bundesinnenministerium finanziert wird, bezeichnen die Fachleute das Hotspot-System auf den griechischen Inseln als systematisch dysfunktional und lassen erkennen, dass sie die Webfehler des Festhaltens von Migranten an den europäischen Südgrenzen auch kaum für reparabel halten.

Aktuell leben auf den Inseln, unter gut dokumentierten katastrophalen Bedingungen, 13.000 Menschen, die dorthin geflohen sind, die meisten aus Syrien und Afghanistan. Zeitweise waren es 38.000. Ausgelegt sind die Lager für wenige Tausend. Ein Fünftel sind Frauen, mehr als ein Drittel Kinder, die von Bildung so gut wie ausgeschlossen sind. Eine reguläre Schule besuchen sechs Prozent, informelle Bildungsangebote von NGOs erreichen etwa 28 Prozent von ihnen. Das Papier zitiert in seinem Titel "No more Morias? Die Hotspots auf den griechischen Inseln: Entstehung, Herausforderungen und Perspektiven" ein Versprechen, das EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im September nach dem Brand des Lagers auf Lesbos gab.

Griechenland hat erst seit sieben Jahren eine Asylverwaltung

Das System der Hotspots existiert seit dem Frühjahr 2015. Unter dem Eindruck hoher Flüchtlingszahlen, die sich im Spätsommer desselben Jahres dann auf ein bisher im Nachkriegseuropa unbekanntes Hoch steigern sollten, verfügte eine damals neue Migrationsagenda der EU, dass Orte, an denen binnen kurzem ungewöhnlich viele Migrantinnen und Migranten irregulär anlanden, besondere Unterstützung der Union erhalten sollten. Die Kommission in Brüssel erklärte fünf griechische Ägäis-Inseln - Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos - zu Brennpunkten (Hotspots) des Fluchtgeschehens.

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Was auf dem Papier nach Hilfe aussah, erwies sich allerdings, das legt die SVR-Analyse sehr deutlich nahe, als fatal. Griechenland war - und ist teils bis heute das EU-Mitglied, das auf die Aufnahme von Flüchtlingen am wenigsten vorbereitet war. Athen hatte erst wenige Jahre zuvor, 2011, überhaupt eine Asylbehörde geschaffen. Zwei Jahre später nahm sie ihre Arbeit auf.

Wie die Autorin des Papiers, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des SVR Karoline Popp, analysiert, prägten bereits 2015 Personalmangel, prekäre und oft wechselnde Besetzungen der Büros im Land die Lage. Sie habe von "von Beginn an im Krisenmodus" gearbeitet, mit Beamtinnen und Beamten, von denen die Mehrzahl (63 Prozent) befristet beschäftigt waren und die für die Inseln offenbar ebenso schwer zu rekrutieren wie zu halten waren: 2019 stammten 62 Prozent der Beschäftigten in den Erstaufnahmen aus Programmen für Langzeitarbeitslose. Trotz Aufstockung des Personals lag der Rückstau unbearbeiteter Asylanträge im Herbst in ganz Griechenland bei 90.000 Fällen. Auf den Inseln fehlten zudem ärztliches Personal und Rechtsbeistände. Auf Samos und Leros war 2019 niemand, auf den übrigen drei Inseln je eine Anwältin oder ein Anwalt zur Unterstützung der Ankömmlinge verfügbar.

Kein offizielles Ziel erreicht, nur ein inoffizielles: Menschen festzuhalten

Die als Unterstützung geschickte und dafür mit Milliarden Euro ausgestattete europäische Asylunterstützungsagentur Easo scheint die Probleme eher verschärft zu haben. Ihre Beamtinnen und Beamten waren anfangs nur kurze Zeit von nationalen Regierungen abgestellt, sprachen meist weder Griechisch noch hatten sie Kenntnis der Lage und Gesetze in Griechenland. Es entstanden Doppelstrukturen und Reibungsverluste, heißt es in der SVR-Analyse.

Der entscheidende Faktor für das Scheitern des Hotspot-Systems, den "Wendepunkt", wie es im Papier heißt, hat demnach aber der EU-Türkei-Deal gebracht, den beide Partnerinnen am 18. März vor fünf Jahren unterzeichneten. Um sich dem anzupassen, habe Griechenland sein junges Asylrecht derart geändert, dass es fortan zweigeteilt war, mit unterschiedlichen Regeln und Verfahren auf den Inseln und dem griechischen Festland. Außerdem machte das Abkommen "aus den 'Durchgangsstationen‘ Zentren, in denen der gesamte Asylprozess stattfinden sollte".

Das deutliche Fazit des Papiers: "Die Hotspots haben weder schnelle und verlässliche Asylverfahren noch effiziente Rückführungen ermöglicht, wie sie das Konzept ursprünglich anvisierte." Sie hätten zudem "kaum geholfen, das Vertrauen in die europäische Solidarität – im Sinne einer fairen Verteilung von Schutzsuchenden – und in ein gemeinsames Asylsystem zu stärken". Außerdem wirft die Analyse der EU vor, das Hotspot-System auf einer Fiktion aufzubauen: Es setze nach den eigenen Worten Brüssels voraus, dass es national funktionstüchtige Einrichtungen gibt, die Flüchtlinge aufnehmen, aber auch rechtskonform zurückschieben können.

Die Hotspots zeigen alle Webfehler der EU-Migrationspolitik

"Solche Strukturen waren und sind jedoch in Griechenland nicht oder nicht ausreichend vorhanden." Die illegalen, teils gewaltsamen Pushbacks durch griechische und Frontex-Grenzschutzkräfte, die derzeit untersucht werden, erklärt die Autorin des Papiers als eine Art Notwehr Griechenlands. Was die Menschenrechtslage in der Ägäis angeht, habe die EU-Grundrechteagentur das Hotspot-Konzept für fast unheilbar in Widerspruch mit den europäischen Grundrechten erklärt.

Tatsächlich habe das System der Hotspots nur erreicht, was nirgendwo als ihr Ziel geschrieben steht: "Sie setzen Schutzsuchende an der europäischen Außengrenze fest und verhindern (oder erschweren) eine irreguläre Weiterwanderung in andere Mitgliedstaaten." Diese "Sekundärwanderungen" waren zuvor lange der Ausweg Griechenlands und anderer überforderter EU-Mittelmeeer-Anrainerinnen wie Italien dafür, dass es ein offizielles Umverteilungssystem in der EU nicht gab und weiter nicht gibt.

Für die Zukunft lässt die Analyse wenig Grund zur Hoffnung erkennen: Die Vorschläge, In den neuen Vorschlägen der Kommission vom Herbst des vergangenen Jahres werde das Hotspot-Konzept sogar noch verschärft - und dies, obwohl sich seine Strukturfehler inzwischen auch auf den Kanarischen Inseln zeigten, wo zuletzt verstärkt Migranten nach noch gefährlicherer Überfahrt landeten.

Jurist: Keine humanitäre, sondern eine politisch gemachte Katastrophe

In der Politik der Hotspots, so der SVR-Text, bündle sich alles, was das Konstrukt kennzeichnet, das den Namen "Gemeinsames europäisches Asylsystem" trägt: Der Widerstreit von nationaler und EU-Zuständigkeit, das Verharren im Krisenmodus, statt Strukturen aufzubauen, und die Überlastung der geografisch benachteiligten Grenzländer der EU, mit denen der Rest der Union sich zu wenig oder gar nicht solidarisch zeigt. Die Studie macht zwar einige Vorschläge zur Verbesserung, die Autorin gesteht aber zwischen den Zeilen selbst ein, dass sie wenig daran glaubt: "Eine Verbesserung der Situation in den griechischen Hotspots ist komplex, voraussetzungsreich und ressourcenintensiv."

Anlässlich des fünften Jahrestag der EU-Türkei-Erklärung hat der Politikwissenschaftler und Jurist Maximilian Pichl für die Hilfsorganisation Medico International eine Analyse der Hotspots erstellt, die er ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit seitens der EU und ihrer Mitgliedsstaaten“. nennt. Der Rechtsstaat werde "durch eine exekutive Politik der Gnade ersetzt“. Zugleich werde die Verantwortung zwischen der EU, den Nationalstaaten, den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen so lange hin- und hergeschoben, „bis niemand mehr für die menschenrechtswidrigen Zustände in den EU-Hotspots politisch und juristisch verantwortlich gemacht werden kann“. Pichl kritisiert auch den Begriff der „humanitären Katastrophe“. "Dass Geflüchtete monate- oder gar jahrelang kaserniert werden und unhaltbaren Zuständen ausgesetzt sind, ist gerade nicht das Ergebnis einer Katastrophe, sondern von politischen Entscheidungen, die insgesamt in Kauf genommen werden.“

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