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Standhaft. Fidan Ataselim am Rande einer Kundgebung in Istanbul. Sie will weiter für Frauenrechte kämpfen.

© Susanne Güsten

Femizide in der Türkei: Der Stimme gegen Frauenmorde droht das Verbot

Fidan Ataselims Verein vertritt Opferfamilien in der Türkei. Nun will die Staatsanwaltschaft ihn als „familienfeindlich“ verbieten. Was steckt dahinter?

Ein schwarzer Ring bewaffneter Bereitschaftspolizisten umzingelt eine Frauengruppe mit lila Fahnen, die sich um eine Frau in schwarzer Lederjacke schart. „Wir sagen es von hier dem ganzen Land: Unser Kampf ist nicht zu stoppen“, ruft Fidan Ataselim, die Generalsekretärin der Vereinigung gegen Frauenmorde. Zeitgleich mit der Kundgebung in Istanbul demonstrieren landesweit Frauen gegen das Verbotsverfahren, das die türkische Justiz gegen den Verein eingeleitet hat.

Seit zwölf Jahren kämpft Ataselims Verein gegen die Kultur der Straflosigkeit bei Femiziden in der Türkei; nun will die Staatsanwaltschaft ihn als „familienfeindlich“ verbieten. Damit werde sie den Kampfgeist der Frauen nicht in die Flasche zurückstopfen können, verspricht Fidan Ataselim: „Denn wir kämpfen um unser Leben.“

Eine Frau nach der anderen ergreift unter den Augen der Polizisten das Mikrofon, um von ihrem Schicksal zu berichten. „Meine Tochter ist erstochen worden, während die Polizei vor der Wohnungstüre stand“, sagt eine Mutter. Ihre Tochter sei verblutet, weil die Polizei ihrem Notruf nicht gefolgt sei, berichtet eine zweite.

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„Meine Tochter ist ermordet worden, und die Staatsanwaltschaft hat nicht einmal ermitteln wollen“, sagt eine dritte. Allen Familien ist der Verein gegen Frauenmorde zur Seite gesprungen, hat die Strafverfolgung durchgesetzt und die Verfahren mit Anwältinnen und Prozessbeobachterinnen begleitet.

„Die Justiz in diesem Land ist frauenfeindlich“, sagt Fidan Ataselim im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Wenn eine Frau getötet worden ist, entscheiden die Gerichte oft zugunsten des Mörders, des Mannes.“ Wenn es um Femizide gehe, würden die Richter oft Strafnachlässe gewähren – dafür reiche es manchmal aus, wenn der Täter vor Gericht eine Krawatte trage oder sage, er habe die Frau aus Leidenschaft getötet. „Indem wir die Prozesse beobachten, erzeugen wir gesellschaftlichen Druck, um diese Strafnachlässe zu verhindern, die das Strafgesetzbuch ermöglicht“, sagt die 32-Jährige.

Waffe Öffentlichkeit

Öffentlichkeit ist die wichtigste Waffe. „Die Behörden verschweigen die Frauenmorde in diesem Land, doch wir veröffentlichen monatlich Berichte zu den Femiziden“, ruft Ataselim auf der Istanbuler Kundgebung. „Sie sagen, so etwas gebe es hier nicht, das seien Familiendramen und Beziehungstaten, doch wir nennen es beim Namen: Femizid.“

Das Verbotsverfahren soll am 1. Juni beginnen und unterstellt dem Verein zum einen eine Nähe zu verbotenen Organisationen: Ein Mitglied des Vereins habe zu einem aufgelösten pro-kurdischen Anwaltsverein gehört. Außerdem habe sich der Verein bei Themen engagiert, die über seine satzungsmäßigen Tätigkeitsfelder hinausgingen und „unmoralisch“ seien, zitieren türkische Medien aus der Anklageschrift. Damit sind offenbar Forderungen nach Rechten für die LGBTQ-Gemeinschaft gemeint. Anonyme Denunzianten hatten dem Verein vorgeworfen, unter dem Deckmantel des Kampfes für Frauenrechte die Institution der Familie angreifen zu wollen. Die Staatsanwaltschaft übernimmt dies: Der Verein wolle „die Familie und die Gesellschaft auflösen“ und „Chaos“ verbreiten.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte im vergangenen Jahr bereits die Istanbuler Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt aufgekündigt, um seine konservative Wählerbasis zu bedienen. Die Morde an Frauen gehen weiter: Im vergangenen Jahr zählte Ataselims Verein 280 Opfer, in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden 73 Frauen von Männern getötet.

Ein Verbot von Ataselims Verein würde der Regierung zwar Beifall aus der konservativen Ecke einbringen, könnte die Organisation aber wohl nicht dauerhaft zerschlagen. Der Verein ist landesweit organisiert und könnte sich nach einer Auflösung rasch neu formieren.

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