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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission will ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland prüfen lassen (Archiv).

© Etienne Ansotte/European Commission/dpa

EZB-Urteil nicht vereinbar mit EU-Recht: EU-Kommissionspräsidentin erwägt Verfahren gegen Deutschland

Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird als falsches Signal an Europas rechtsnationale Regierungen verstanden. Die Kommissionspräsidentin prüft nun weitere Schritte.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen prüft wegen des jüngsten Verfassungsgerichtsurteils zur Europäischen Zentralbank ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Dies geht aus einem Brief von der Leyens an den Grünen-Europapolitiker Sven Giegold hervor, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Woche die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der EZB beanstandet und sich damit erstmals gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gestellt. Giegold hatte die EU-Kommission deshalb aufgefordert, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.

Von der Leyen bekräftigte daraufhin, das deutschen Urteil werde derzeit genau analysiert. „Auf der Basis dieser Erkenntnisse prüfen wir mögliche nächste Schritte bis hin zu einem Vertragsverletzungsverfahren“, schrieb die Kommissionschefin an Giegold.

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Das Urteil des Verfassungsgerichts werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten, heißt es in dem Schreiben weiter. Die Währungspolitik der Union sei in ihrer ausschließlichen Zuständigkeit. EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht und Urteile des EuGH seien für alle nationalen Gerichte bindend. „Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg“, schrieb von der Leyen. „Ich nehme diese Sache sehr ernst.“ Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, die die EU-Kommission jederzeit wahren und verteidigen werde.

Rechtsnationale Regierungen sehen sich bestätigt

Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne „auf den ersten Blick irritierend wirken“, schickt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, „dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf“.

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Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das mächtige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EU-Gericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt und damit die Union zusammenhält. Was, wenn das zu Widersprüchen führt?

In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor einzugreifen, wenn sie den innersten Kern des Grundgesetzes verletzt sehen. Und wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat.

Bundesverfassungsgericht nennt EuGH-Urteil „methodisch nicht mehr vertretbar“

Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe. 2014 unterbreiten die deutschen Richter ihre Bedenken zum ersten Mal dem EuGH. Der gibt der EZB grünes Licht. 2017 - inzwischen hat die Notenbank viele Milliarden in Staatsanleihen gesteckt - der zweite Karlsruher Vorstoß in Luxemburg. Aber der EuGH lässt sich eineinhalb Jahre Zeit und erteilt dem Kaufprogramm dann recht pauschal seinen Segen.

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Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war zu befürchten. Sie schieben das EuGH-Urteil als „objektiv willkürlich“ und „methodisch nicht mehr vertretbar“ beiseite und entscheiden im Alleingang, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe - ein beispielloser Vorgang.

„Ich habe die Sorge, dass sich das Urteil negativ auf die Zukunft und den Zusammenhalt der Europäischen Union auswirken könnte“, sagt die frühere Bundesjustizministerin Barley der „Passauer Neuen Presse“. EuGH-Entscheidungen müssten von den nationalen Gerichten respektiert werden. Der Europarechtler Mayer von der Universität Bielefeld hält die Situation für „hochgefährlich“. Den Richterspruch aus Karlsruhe sieht er als Angriff auf die EuGH-Kollegen.

„In Polen knallen die Korken“

Diese lassen sich mit einer inhaltlichen Reaktion mehrere Tage Zeit. Am Freitag werden sie dann aber ungewöhnlich deutlich. Grundsätzlich gelte zwar: „Die Dienststellen des Gerichtshofs kommentieren Urteile nationaler Gerichte nicht.“ „Ganz generell“ stellt der EuGH aber klar, dass derlei Urteile das Justizsystem der EU gefährdeten. Eine Vorabentscheidung sei für das nationale Gericht bindend. Dass die Handlung eines EU-Organs - in diesem Fall die EZB - gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr.

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Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. „In Polen knallen die Korken“, sagt er. In dem Land baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer. „Die können ihr Glück kaum fassen.“ Die Regierung werde künftig auf das Bundesverfassungsgericht verweisen und behaupten, EuGH-Urteile seien nicht bindend.

Befürchtet wird durch das Karlsruher Urteil eine Signalwirkung an die rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn. (Symbolbild).
Befürchtet wird durch das Karlsruher Urteil eine Signalwirkung an die rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn. (Symbolbild).

© Wojtek RADWANSKI / AFP

Tatsächlich wird das Urteil von der Regierung in Warschau nahezu euphorisch aufgenommen. Es sei von kolossaler Bedeutung und zeige, dass Polen in dem Konflikt mit der EU-Kommission Recht habe, sagt Vize-Justizminister Sebastian Kaleta. „Der deutsche Verfassungsgerichtshof hat heute direkt gesagt, dass die EU soviel darf, wie ihr die Mitgliedstaaten erlauben.“

EuGH ist Ausdruck des gemeinsamen Rechts in der EU

Was also, wenn Polen, Ungarn oder andere Staaten sich ein Beispiel an Deutschland nehmen und EuGH-Urteilen künftig nicht mehr folgen? Für Mayer würde das am Kern der Staatengemeinschaft kratzen. Das gemeinsame Recht sei für den Zusammenhalt der EU entscheidend. „Die europäische Gemeinschaft ist eben nur eine Rechtsgemeinschaft. Und der EuGH ist Ausdruck dieses gemeinsamen Rechts.“

Eine entschiedene Reaktion sei deshalb wichtig, sagt Mayer. „Aus Sicht des Europarechts kann man sich das nicht bieten lassen.“ Die EU-Kommission müsse ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten - wegen der Nicht-Befolgung des EuGH-Urteils und vielleicht auch wegen der Verletzung der Unabhängigkeit der EZB.

Solche Verfahren stößt die Brüsseler Behörde regelmäßig an, wenn ein Land aus ihrer Sicht gegen EU-Recht verstößt. Zunächst wird auf schriftlichem Wege versucht, die Differenzen auszuräumen. Falls ein Staat nicht einlenkt, kann die EU-Kommission das Land vor dem EuGH verklagen. Bestätigt der Gerichtshof den Rechtsverstoß, kann die EU-Kommission finanzielle Sanktionen gegen das Land beantragen. (dpa)

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