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Derzeit steht Polens Regierungschefin Beata Szydlo allein am EU-Pranger. Das soll sich nach dem Willen von EU-Abgeordneten ändern.

© dpa

Streit zwischen Brüssel und Polen: Europaparlament prüft neuen Grundrechte-Check

In vielen EU-Staaten sind Grundrechte gefährdet. Die Europäer versuchen immer wieder, einzelne Länder wie Ungarn und Polen auf Kurs zu bringen – bisher ohne Erfolg. Das Europaparlament will das nun ändern.

Im EU-Jargon nennen sie ihn die „Atombombe“. Gemeint ist damit der Artikel 7 des EU-Vertrags, von dem eine verheerende Wirkung ausgeht – zumindest in der Theorie. Einzelne Mitgliedstaaten können laut Artikel 7 das EU-Stimmrecht verlieren, wenn dort die Grundrechte nicht beachtet werden. In der Vergangenheit erwies sich das aber als leere Drohung. Das Verfahren lief häufig so ab: Die Europäer wiesen mit dem Zeigefinger auf ein einzelnes EU-Land – und dort wurde die Mahnung, die Grundrechte zu beachten, weitgehend ignoriert. Europaabgeordnete tüfteln deshalb nun an einem System, bei dem nicht mehr einzelne Mitgliedstaaten auf dem Prüfstand stehen, sondern alle Länder gleichzeitig.

Dass man sich in den EU-Hauptstädten nicht sonderlich um die Appelle aus Brüssel schert, machten zuletzt die Nationalkonservativen in Polen deutlich. Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ hatte im vergangenen Jahr eine umstrittene Justizreform durchs Parlament gebracht, über die sich die Regierung von Beata Szydlo seit Januar mit der EU-Kommission herumstreitet. Theoretisch droht der Regierung von Szydlo in dem Disput in letzter Instanz der Entzug des EU-Stimmrechts. In der jüngeren Vergangenheit der EU-Geschichte sind die Europäer aber stets davor zurückgeschreckt, den gefürchteten Artikel zum Einsatz zu bringen. Weil sich das auch in Zukunft wohl nicht ändern wird, ist die niederländische Europaabgeordnete Sophie in’t Veld überzeugt: „Die Atombombe muss entschärft werden.“

Die Parlamentarierin in’t Veld sieht das Gezerre, das sich schon seit Monaten zwischen dem zuständigen EU-Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans und der Regierung in Warschau in der Auseinandersetzung über die Besetzung des polnischen Verfassungsgerichts hinzieht, mit Skepsis. In der vergangenen Woche versuchte Timmermans am Telefon, Szydlo noch einmal zum Einlenken zu bewegen, doch die Regierungschefin blieb unnachgiebig. „Wie kann es angehen, dass über so entscheidende Dinge wie die Unabhängigkeit der Justiz hinter verschlossenen Türen verhandelt wird?“, will in’t Veld wissen. „Das geht jeden Bürger an.“

Auch ihr konservativer Parlamentskollege Frank Engel ist der Auffassung, dass Timmermans im Streit um die Grundrechte zu zahm gegenüber der polnischen Regierung auftritt. Der Abgeordnete aus Luxemburg glaubt auch den Grund zu kennen, warum die EU-Kommission nach der Verabschiedung der umstrittenen Gesetze in Warschau nicht härter aufgetreten ist: „Timmermans ist ein Nationalstaats-Fetischist.“

2000 herrschte Eiszeit zwischen Wien und den EU-Partnern - gebracht hat es nichts

Allerdings hat die bisherige Erfahrung auch gezeigt, dass es letztlich kontraproduktiv ist, wenn ein einzelnes Land wie derzeit Polen an den EU-Pranger gestellt wird. Als die rechtspopulistische FPÖ bei den Parlamentswahlen 1999 zweitstärkste Kraft in Österreich wurde und die von Jörg Haider geführte Partei zum Regierungspartner avancierte, schränkten die EU-Partner aus Protest ihre Kontakte mit der Regierung in Wien ein. Die Auseinandersetzung gipfelte seinerzeit in dem Appell des damaligen belgischen Außenministers Louis Michel, nicht mehr nach Österreich in den Skiurlaub zu fahren.

„Diese Episode hat dazu beigetragen, dass heute in Österreich Skepsis gegenüber der EU herrscht“, erinnert sich die Europaabgeordnete Ulrike Lunacek. Die Grüne befürwortete damals im österreichischen Parlament zwar die Sanktionen der EU-Partner. Aber gleichzeitig entging ihr auch nicht, dass die diplomatische Eiszeit zu einem Wagenburg-Effekt in Österreich führte. „Damals war das Gefühl weitverbreitet: ,Die da in Brüssel gegen uns.‘“, sagt Lunacek im Rückblick. Am Ende mussten die EU-Partner kleinlaut einen Rückzieher machen, ohne etwas an der Regierungsbeteiligung der FPÖ zu ändern.

Auch Ungarn geriet vor einem halben Jahrzehnt ins Visier der EU. 2012 musste die Regierung von Viktor Orban die Frühpensionierung von missliebigen Richtern und Staatsanwälten zurücknehmen, nachdem die EU-Kommission dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt hatte. Ein Jahr zuvor hatte Orban auf Druck der Kommission ein umstrittenes Mediengesetz geändert. Aber vielen Kritikern gingen die Änderungen nicht weit genug.

Wegen der schlechten Erfahrungen suchen deshalb EU-Abgeordnete wie Sophie in’t Veld, Frank Engel und Ulrike Lunacek nach einem Weg, um die Grundrechte in den EU-Staaten hochzuhalten, ohne dass es gleich zu einem Showdown mit einzelnen Mitgliedstaaten kommt. Nach Ansicht der Abgeordneten bringt es mehr, wenn man sämtliche 28 EU-Staaten einem regelmäßigen Grundrechte- Monitoring unterzieht. Wenn nicht nur ein Land in der Ecke steht, so lautet der Gedanke, kann die EU eher ihren Einfluss geltend machen. Engel erinnert beispielsweise daran, dass derzeit auch die Grundrechte in Frankreich gefährdet sind: „Es ist nicht haltbar, dass der Ausnahmezustand hier schon seit einem halben Jahr andauert.“

Niederländerin in't Veld schlägt Grundrechte-Check auf Anzeigetafel vor

Allerdings dürfte es noch eine Weile dauern, bis sich die Parlamentarier darauf einigen, wie das Grundrechte-Monitoring sämtlicher Mitgliedstaaten in die Praxis umgesetzt werden könnte. Die Niederländerin in’t Veld, die als Berichterstatterin im EU-Parlament für den geplanten Grundrechte-Pakt zuständig ist, plant ein System nach dem Vorbild einer Anzeigetafel. Dort soll nach ihren Vorstellungen für jeden Mitgliedstaat in jedem Jahr aufs Neue festgehalten werden, wie es um einzelne Bereiche wie die Meinungs- und Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz oder die Versammlungsfreiheit bestellt ist. In jedem Bereich soll für die Mitgliedstaaten mit den Farben Rot, Gelb und Grün dokumentiert werden, wo möglicherweise Verbesserungsbedarf besteht und im schlimmsten Fall Sanktionen drohen könnten.

Der Abgeordnete Engel hält hingegen ein solches System für „surreal“. Eine derartige „Quantifizierung der Rechtsstaatlichkeit“, so glaubt er, würden die Mitgliedstaaten am Ende kaum mitmachen. Der Einwand hat seinen Grund: Nach der im kommenden Oktober geplanten Abstimmung über den Grundrechte- Pakt im Plenum des Europaparlaments müssen neben der EU-Kommission auch die Mitgliedstaaten zustimmen.

Engel schlägt deshalb ein anderes Modell zur jährlichen Bewertung sämtlicher EU-Staaten vor. Demnach sollen nach dem Vorbild der Fortschrittsberichte, wie sie die Kommission über Beitrittskandidaten wie die Türkei erstellt, auch Rechtsstaatlichkeitsberichte für jene Länder verfasst werden, die bereits EU-Mitglied sind. „Heute verfahren die Mitgliedstaaten nach der Devise: Wenn man erst mal drin ist im europäischen Klub, dann kann man in puncto Grundrechte machen, was man will“, kritisiert Engel. Mit der Bequemlichkeit der Klub-Mitglieder soll demnächst Schluss sein. Zumindest wenn es nach dem Europaparlament geht.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 7. Juni 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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