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Die repräsentative Demokratie braucht mehr Bürgerbeteiligung: Durch Bürgerräte

© picture alliance/dpa

Auch politisch durch die Pandemie dazulernen: Es ist Zeit für einen Corona-Bürgerrat

Deutschland braucht eine Re-Demokratisierung seiner Politik. Bürgerräte nach irischem Vorbild wären das richtige Mittel. Ein Gastbeitrag.

Olivia Mitscherlich-Schönherr lehrt Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens an der Hochschule für Philosophie in München

Mit der Herbst-Corona-Welle stehen wir an einem Scheidepunkt in unserem Umgang mit der Krise. Wir stehen vor der Alternative, die politischen Lernerfolge preiszugeben, die wir in den vergangenen Monaten im Verlauf der Lockerungen erzielt haben, oder einen weiteren Schritt des gesellschaftlichen Lernens zu tun.

In den Corona-Monaten haben wir gesellschaftliche Lernprozesse durchlaufen, indem wir nicht nur die politischen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise grundlegend verändert, sondern auch die politischen Maßstäbe unseres Umgangs mit der Krise revidiert haben. Von einer naturwissenschaftlich-intensivmedizinisch orientierten Corona-Politik im "Lock-down" haben wir in den Lockerungen auf einen ganzheitlich-pluralen Umgang mit der Krise umgestellt.

Spätestens angesichts der rasanten Zunahme der Infektionszahlen wird unser erneuerter ganzheitlich-pluraler Umgang mit der Corona-Krise seinerseits herausgefordert.

Um die gegenwärtige Situation klug zu gestalten, ist der Sache nach von uns verlangt, unterschiedliche Maßstäbe im Blick zu behalten: den Schutz vor Infizierung genauso wie die Bildung unserer Kinder, die Stabilität unserer wirtschaftlichen Ordnung, die Belastungen für vulnerable Bevölkerungsgruppen und die Sehnsüchte nach dem Ausbruch aus dem belastenden Alltag.

Auch das demokratisch-repräsentative System muss dazulernen

Zugleich sind wir aber auch durch die Weise unserer politischen Entscheidungen über die anstehenden Corona-Maßnahmen gefordert. Im Rahmen unseres Repräsentativ-Systems werden die anstehenden politischen Entscheidungen von den politischen Repräsentanten ausgeübt.

Die Corona-Beschlüsse, die von Bund und Ländern in den letzten Wochen verabschiedet wurden und von großer Relevanz für unseren Lebensalltag sind, sind nicht nur – wie allseits beklagt – uneinheitlich. Sie vermitteln in der breiten Öffentlichkeit häufig auch den Eindruck, Ergebnisse von undurchsichtigen Kompromissen zu sein. Zusammen mit der Verständlichkeit ihrer Gründe sinkt jedoch die öffentliche Akzeptanz der Maßnahmen.

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Die gegenwärtige Koinzidenz aus hohen Fallzahlen und Autoritätsverlust der politischen Eliten markiert einen Scheidepunkt. Wichtige politische Entscheidungsträger scheinen dazu zu tendieren, die Reißleine zu ziehen: wieder ganz auf die Orientierung an den Maßstäben der Virologie umzustellen, scharfe Eingriffe in das öffentliche Leben vorzunehmen und deren Einhaltung mit Härte durchzusetzen.

Darin wäre die Entfremdung von politischen Eliten und breiter Bevölkerung weiter vorangetrieben; und es wären die biopolitischen Lernerfolge preisgegeben, die wir in unserem umsichtigen Umgang mit der Krise erreicht haben.

Struktureller Widerspruch der liberalen Demokratie tritt deutlicher hervor

Es besteht jedoch eine Alternative zu diesem Rückschritt: den politischen Corona-Lernprozess fortzusetzen. In der aktuellen Entfremdung von Eliten und breiter Bevölkerung tritt ein struktureller Widerspruch innerhalb unserer liberalen Demokratie hervor: der Widerspruch zwischen den liberalen Prinzipien der Gewaltenteilung und der Repräsentation und dem demokratischen Prinzip der Selbstbestimmung aller.

Die repräsentative Demokratie steckt in der Krise

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Dieses Strukturdefizit unserer repräsentativen Demokratie sollten wir hier und jetzt angehen. Es bedeutet für unsere liberale Demokratie nämlich nicht nur ein Legitimationsproblem: dass politische Selbstbestimmung seit langem nur von einer Minderheit ausgeübt wird, während sich die politischen Einflussmöglichkeiten der breiten Mehrheit auf die Wahl der wenigen beschränken, die an ihrer statt entscheiden.

Ganz offensichtlich ist unsere Minderheiten-Demokratie unter den Bedingungen der zweiten Corona-Welle auch mit einem Stabilitätsproblem konfrontiert: ist doch unklar, ob und wie wir als Demokraten gut durch die aktuelle Krise kommen werden.

Bürgerräte könnten das Defizit überwinden

Bei der aktuell anstehenden Transformation unseres politischen Umgangs mit der Corona-Krise würde es sich lohnen, ein Instrument zu erproben, auf das in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten sehr erfolgreich zurückgegriffen wurde, um die Strukturdefizite der repräsentativen Demokratie zu überwinden: die Bürgerräte und -versammlungen.

Bürgerräte arbeiten für einen begrenzten Zeitraum und haben kontroverse gesellschaftspolitische Fragen – wie den Umgang mit der Corona-Krise – zu ihrem Gegenstand. Legitimiert werden sie nicht durch Wahlen, sondern indem sie paritätisch durch Losverfahren aus allen Gruppierungen der Bevölkerung gebildet werden.

Sie unterscheiden sich darin nicht nur von den Parlamenten, sondern auch von Expertengremien wie dem Ethikrat oder dem Bundesverfassungsgericht, in denen die Debatten kontroverser politischer Fragen wiederum von politischen Eliten übernommen werden.

In der Gegenwart könnte ein bundesweiter Corona-Bürgerrat allen Betroffenen Gehör verschaffen: den Freiberuflern genauso wie den Facharbeitern in der Automobilindustrie, Party-hungrigen Jugendlichen wie Bewohnern von Altersheimen, Eltern wie Erziehern und Lehrern.

Irland hat in der Finanzkrise eine Bürgerversammlung einberufen

Ein Corona-Bürgerrat sollte das Repräsentativ-System nicht ablösen, sondern ergänzen – und auf diese Weise zu dessen Re-Demokratisierung beitragen. Bei seiner Gestaltung ließe sich insbesondere von der "Citizens Assembly" lernen, die in Irland in der Finanzkrise gegründet wurde und gerade aufgrund ihrer Einbindung in das Repräsentativ-System sehr erfolgreich war.

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In Irland haben Regierung und Parlament nicht nur der Einberufung der Bürgerversammlung zugestimmt, sondern auch deren Vorsitzenden und wissenschaftlichen Beirat ernannt und einen Parlamentsausschuss gegründet, der ihre Empfehlungen für Parlamentsdebatten aufbereitet hat. Die Regeln, nach denen die "Assembly" tagte, hat diese sich selbst gegeben. Auch stand es ihr frei, weitere wissenschaftliche Experten zu bestimmten Themen einzuladen. Auf diese Weise wurde ihre Unabhängigkeit von den politischen Eliten sichergestellt. Die Empfehlungen der irischen Bürgerversammlung zu den Fragen des Abtreibungsrechts und der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare haben eine breite öffentliche Debatte angestoßen und dem Parlament als Vorlagen zu – gesellschaftlich getragenen – Verfassungsänderungen gedient.

Bundesregierung müsste jetzt die Auslosung von Ratsmitgliedern organisieren

Die Bundesregierung könnte an das irische Erfolgsrezept anzuknüpfen, indem sie zeitnah die Bedingungen für einen bundesweiten Corona-Bürgerrat ins Werk setzte. Hierfür hätte sie die Auslosung der Ratsmitglieder zu organisieren und einen breit aufgestellten Beirat aus den verschiedenen Strömungen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften einzuberufen, die mit der Corona-Krise befasst sind.

Der Corona-Bürgerrat könnte im kommenden Jahr in digitalen Formaten jeweils an einem Wochenende zu den kontroversen Fragen der Corona-Politik tagen: Welche Instrumente – von Kontaktbeschränkung über Tracing-App bis zur Impfung – wollen wir im Umgang mit der Corona-Krise wann anwenden? Soll ihre Anwendung verpflichtend sein und wie sollen Verstöße sanktioniert werden? Wann und wie wollen wir welche Einschränkungen lockern?

Wie können wir sicherstellen, dass Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, nicht überproportional von der Pandemie betroffen werden? Wie können wir die vulnerablen Bevölkerungsgruppen der alten und vorerkrankten Menschen schützen? Wie können wir außenpolitisch unseren globalen Verpflichtungen – insbesondere gegenüber den Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen – in der gegenwärtigen Krise nachkommen? Nach welchen Kriterien wollen wir die Corona-Hilfsmittel verteilen? Und wie können wir dabei insbesondere Umwelt-Standards berücksichtigen?

Bei der Ratstätigkeit wären die ausgelosten Bürgerräte – nach irischem Vorbild – durch den Beirat auf einen gemeinsamen Wissensstand zu bringen. Auf der Basis des geteilten Wissens wären die unterschiedlichen Aspekte der Corona-Politik in Kleingruppen zu debattieren und am Ende der Wochenenden im Plenum gemeinsame Empfehlungen zu verabschieden und der Öffentlichkeit zur Diskussion vorzutragen.

Damit ein Corona-Bürgerrat zu einer nachhaltigen Re-Demokratisierung unseres Landes beitragen kann, müssten Regierung und Parlament seine Empfehlungen in ihren Corona-Maßnahmen berücksichtigen. Selbst wenn der Corona-Bürgerrat für die jetzt anstehenden Entscheidungen nicht schnell genug arbeiten sollte, hätten wir mit seiner Errichtung eine partizipatorische Erweiterung unserer repräsentativen Demokratie erreicht. Langfristig könnten wir hiervon im Umgang mit brisanten gesellschaftspolitischen Herausforderungen – wie etwa der Klimakrise – zehren.

Olivia Mitscherlich-Schönherr

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