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Mit Dank, aber auf Distanz: Wolodymyr Selenskyj und Olaf Scholz am Sonntag im Kanzleramt.

© dpa/Christoph Soeder

Erster Besuch Selenskyjs in Berlin: Trotz schöner Worte, die Distanz bleibt sichtbar

Erstmals seit Kriegsbeginn kommt der ukrainische Präsident nach Deutschland. So routiniert und reibungsarm alles nach außen erscheint, gibt es doch ein paar bemerkenswerte Zwischentöne.

Am Ende streckt Olaf Scholz seine Hand aus. Ein, zwei Sekunden aber muss er warten, bis Wolodymyr Selenskyj einschlägt. Scholz setzt sogleich ein Lächeln auf, Selenskyj vermeidet das. Dann treten sie ab von den Pulten, an denen sie eben ihre Pressekonferenz beendet haben. Der verzögerte Händedruck – nur ein Zufall oder doch Symbolik?

Der kurze Moment bringt diesen denkwürdigen Sonntagvormittag im Berliner Regierungsviertel auf den Punkt. So routiniert und reibungsarm alles nach außen erscheint, gibt es doch ein paar bemerkenswerte Zwischentöne. Da treten ja auch zwei kräftig unterschiedliche Charaktere auf! Hier der charismatische Kriegs-Präsident, der einst Schauspieler und Komiker war, und gewiss einen Sinn für Gesten besitzt. Und dort der Kanzler, neu auf internationaler Bühne, einst Regionalpolitiker und Anwalt, bedächtig, spröde, wenig expressiv.

Berlin ist nur Nummer Neun

Doch der Reihe nach: Fast 15 Monate oder, wie Olaf Scholz sagt, 444 Tage, sind seit dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine vergangen, bevor Selenskyj in Europas Wirtschaftsmacht Nummer eins aufschlägt. Auch das hat mit Scholz zu tun, mit Frank-Walter Steinmeier, der gescheiterten Russlandpolitik Angela Merkels und erst recht der SPD. Wo ist Selenskyj zuvor schon überall gewesen! Natürlich, in Washington, aber auch in Brüssel, Paris, London, Warschau, Den Haag, Helsinki und am Samstag sogar in Rom. Berlin ist also nur Nummer neun.

Von Rom aus flog die deutsche Luftwaffe Selenskyj mit einem Regierungs-Airbus A319 zum Berliner Flughafen. Eurofighter eskortierten den Flug. In der Nacht zu Sonntag, gegen halb eins morgens, landete er am Flughafen BER. Wer in dieser Nacht Helikopter über Berlin-Mitte hörte oder gar sah, konnte es ahnen: Ein Hubschrauber brachte den Präsidenten der Ukraine zum Bundesverteidigungsministerium, dem Bendlerblock im Tiergarten.

Wo sich Camouflage-Kleidung und Yoga-Leggings begegnen

Ob und wo Selenskyj in Berlin übernachtet – das wussten nicht einmal jene, die sonst derlei Geheimnisse beredt teilen. Starke Indizien für Selenskyjs Unterkunft sammelte am Sonntagmorgen eine Berlinerin, die auf dem Dach eines Hotels unweit des Bendlerblocks zum Yoga verabredet war. Yoga? Von wegen. Stattdessen Absperrungen, Scharfschützen. Im Hotel-Aufzug Menschen in Camouflage-Kleidung, die auf der Etage mit Präsidenten-Suite aussteigen. Später eskortieren Männer in voller Kampfausrüstung die Frauen in Yoga-Leggings vom Hotel auf die Straße. „Leider“, berichtet die Berlinerin, „war Selenskyj da schon weg.“

Das Programm des Gastes aus Kiew beginnt, so will’s das Protokoll, beim Bundespräsidenten. Selenskyj und Steinmeier sind ja Amtskollegen, und das mit einer schwierigen Geschichte. Man denke nur an das Hin und Her ob Steinmeiers Besuch in Kiew. Selenskyj weiß, wie sehr Steinmeier in seiner klassisch-etatistischen und am Ende verfehlten Außenpolitik auf Moskau, auf Waldimir Putin, auf den „lieben Sergej“ Lawrow, auf Nordstream 2 gesetzt hat.

Präsident mit Werbung für Spenden-Plattform

Steinmeier empfängt Selenskyj vor dem Schloss Bellevue. „Hey“, ruft Steinmeier. „Guten Morgen, Herr Präsident“, sagt Selenskyj auf Englisch. Steinmeier tätschelt den Unterarm seines Gastes. Angespannte Gesichter beim Handschlag später. Selbst das offizielle Foto vom Frühstück der beiden zeigt die Distanz. Steinmeier bemüht sich um Nähe, rückt auf seinem Sessel nach vorn, lächelt. Selenskyj (schwarzes Sweatshirt mit ukrainischen Nationalfarben und Werbung für die Spenden-Plattform „United 24“ sowie olivgrüne Cargopants) hingegen lehnt sich an. Er faltet die Hände im Schoß.

Beim Eintrag ins Gästebuch wahrt Selenkyj die Form, dankt Deutschland und Steinmeier auf Englisch: „Vielen Dank, Herr Bundespräsident, für Ihre persönliche Unterstützung der Ukraine und Gastfreundschaft“. Er dankt dem deutschen Volk für dessen „fantastische Solidarität“. Auf Deutsch ergänzt er: „Danke Deutschland!“

Vielen Dank, Herr Bundespräsident, für Ihre persönliche Unterstützung der Ukraine und Gastfreundschaft.

Selenskyjs Eintrag ins Gästebuch vom Schloss Bellevue

Während Selenskyj noch im Bellevue weilt, ist der rote Teppich vor dem Kanzleramt schon ausgerollt. Das Stabsmusikkorps probt. Das Regierungsviertel ist abgeriegelt, Polizisten aus Sachsen und Schleswig-Holstein helfen aus. Statt Ausflugdampfern schippert die Polizei auf der Spree. Der S-Bahn-Verkehr ist unterbrochen. Hubschrauber kreisen.

Ein unerwarteter Besucher

Vor dem Kanzleramt stellen sich die Delegationen auf, Scholz’ und Selenskyjs engste Kreise. Um 9.55 Uhr – Scholz wartet auf dem roten Teppich, der Berliner Dom läutet – steigt der Gast aus einer schwarzen Mercedes Limousine. Sehr, sehr langes Händeschütteln. Militärische Ehren. Nationalhymnen. Dann ziehen sich Scholz und Selenskyj ins Kanzleramt zurück. Gespräche im kleinen, dann erweiterten Kreis.

Während Journalisten und Regierungs-Mitarbeiter eine gute Stunde später im Kanzleramt auf die Pressekonferenz warten, richten sich plötzlich alle Blicke auf einen unerwarteten Besucher: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Der trägt eine grüne Mappe mit sich. Was er zu dem tags zuvor bekannt gemachten Rüstungs-Paket für die Ukraine sage, ruft ein Reporter. „Das Werk Vieler!“ übt sich Pistorius im Understatement. Später schlagen Finanzminister Christian Lindner (FDP), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Innenministerin Nancy Faeser (SPD) auf, folgen Selenskyjs Worten bei der Pressekonferenz mit Übersetzungs-Kopfhörer am Ohr.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) begrüßt Selenskyj am Sonntag in Berlin.

© action press/Sean Gallup

„Lieber Wolodymyr“, beginnt Scholz sein Statement, erinnert an Telefonate und Treffen. Man werde die Ukraine solange unterstützen wie es nötig sei, sagt der Kanzler. Er verweist auf das 2,7-Milliarden-Euro-Rüstungspaket. Selenskyj faltet die Hände auf dem Rednerpult, breitet sie dann aus, fast so, als wolle er sich verteidigen. Immer wieder nickt er leicht, Dutzende Male, meist mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Sein Signal: Hier gibt es keine Umarmungen (wie mit Macron oder Johnson), weder real noch verbal. Emotionen? Nix da.

„Ruhm der Ukraine!“

„Vielen Dank, Olaf, sehr geehrter Herr Bundeskanzler“, beginnt Selenskyj: „Ich möchte Dir, Olaf, herzlich danken.“ Er dankt nicht nur dem Kanzler, sondern dem deutschen Volk, den Steuerzahlern, Städten und Bundesländern. „Danke für jede Mutter, die gerettet werden konnte“, sagt er: „Ruhm der Ukraine!“

In der Fragerunde macht Selenskyj ein paar Punkte, die dem Kanzler kaum gefallen. Die Ukraine arbeite während seiner Reise in Europas Hauptstädten an einer „Kampfjet-Koalition“. Er werde sich da auch an Deutschland wenden. Russland habe derzeit ein Übergewicht im Luftraum, „das wollen wir überwinden“. Scholz reagiert reserviert, Berlin will keine Flugzeuge liefern.  

Hier der Meinungsunterschied in der Sache, dort zwei Spitzen Selenkyjs für Scholz. Der Kanzler betont, wie so oft, Deutschland sei zweitgrößter Unterstützer der Ukraine, nach den USA (angesichts der Wirtschaftsstärke keine so große Leistung). „Wir werden daran arbeiten“, sagt Selenskjy, „dass wir Deutschland auf den ersten Platz bringen.“ Gefragt, ob die deutsche Unterstützung mit Waffen für die Ukraine ausreiche, pariert Selenskyj, leicht ironisch: „Noch einige Besuche, dann ist es ausreichend.“ Da huscht selbst Olaf Scholz ein Lächeln übers Gesicht.

Wenig später treten die beiden Männer ab. Sitzung des Bundessicherheitskabinetts, nur ein paar Meter weiter. Baerbock, Faeser und Pistorius warten ja schon. Am Sonntagnachmittag reisen Scholz und Selenskyj: Nach Aachen, zur Verleihung des Karlspreises – und Seit an Seit.

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