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Bekennerschreiben ignoriert. Die Polizei in Kempten (Allgäu) hat nach einem Brandanschlag auf eine türkische Familie nicht sorgfältig ermittelt.

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Exklusiv

Polizei ignorierte 30 Jahre lang rechtsextremes Bekennerschreiben: Ermittlungen zu tödlichem Brandanschlag auf türkischstämmige Familie wieder aufgenommen

1990 stirbt in Kempten ein Kind bei einem Anschlag. Die Generalstaatsanwaltschaft München rollt das Verfahren nun wieder auf. Ein weiterer Fall bleibt unklar.

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Vor dreißig Jahren verübten Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Wohnhaus im allgäuischen Kempten. Zeynep, Gökhan und Guney S. (Namen geändert) überlebten schwer verletzt, doch für ihren fünfjährigen Bruder kam jede Rettung zu spät. Er starb in der Nacht des 17. November 1990. Bis heute ist der Fall unaufgeklärt. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten die Ermittlungen nach eineinhalb Jahren eingestellt – und die türkischstämmige Familie mit vielen Fragen zurückgelassen. Jetzt wird der Fall neu aufgerollt. Nach Recherchen von Tagesspiegel und "Zeit Online" zu einem Bekennerschreiben von Rechtsextremisten ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft München. Man schließe ein „extremistisches Tatmotiv“ nicht aus, sagt ein Sprecher – nachdem die Behörden das Bekenntnis drei Jahrzehnte lang offenbar ignoriert hatten. Tagesspiegel und "Zeit Online" hatten den Fall Anfang Oktober in ihrer Langzeitrecherche zu Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung genannt.

"Ein hinterhältiger Mord"

„Der Verlust unseres Bruders bekommt damit endlich die verdiente juristische Aufmerksamkeit als hinterhältiger Mord“, sagen die überlebenden Geschwister. Auch wenn die Chancen auf neue Erkenntnisse gering sind, „hoffen wir dennoch darauf, dass neue Details zu Tage kommen – vielleicht auch zu ähnlich gelagerten Taten.“

Das Kind starb an einer Rauchgasvergiftung

Die sechsköpfige Familie S. lebte 1990 mit anderen Bewohnern türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Zeynep, Gökhan und Guney standen an der Schwelle zur Volljährigkeit. In der Novembernacht verschütteten die Täter vor den Wohnungen im zweiten und dritten Stock eine brennbare Flüssigkeit und zündeten sie an. Ghökan S. beschreibt präzise, wie ihn die Schreie seiner Mutter weckten, während der dunkle Rauch die Wohnung füllte. Die drei älteren Geschwister sprangen aus dem Fenster. Erst nach Minuten verstanden die Feuerwehrleute, dass ihr kleiner Bruder noch in der Wohnung war und holten ihn heraus. Wenig später starb der Junge im Krankenhaus an einer Rauchgasvergiftung.

Bekennerschreiben mit Hakenkreuz

Von dem, was danach geschah, erfuhr die Familie von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht viel. Auch nicht, dass wenige Tage später eine Gruppe namens „Anti Kanaken Front Kempten“ ein Bekennerschreiben verbreitete. In Runenschrift und mit Hakenkreuz verziert schrieben die Rechtsextremen, der „sehr erfolgreiche Anschlag“ sei „erst der Anfang“ gewesen. Sie drohten: „Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“ Weiter heißt es: Kempten werde die „erste Stadt sein“, die „nicht von Schwulen, Linken, Ausländern und anderen Schweinen geplagt“ werde.

Anschläge wurden in Bericht des Verfassungsschutzes erwähnt

Wesentlichen Einfluss auf die Ermittlungen hatte das Schreiben offenbar nicht  – obwohl in den Wochen vor der Tat und danach weitere Brandanschläge in Kaufbeuren, Immenstadt und Kempten verübt wurden. Die Anschläge sind zwar im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt. In der Öffentlichkeit fand die Lesart einer rechtsextremistischen Serie jedoch kaum Niederschlag. Mitverantwortlich dafür war offenbar auch die Strategie des damaligen Kemptener Polizeipräsidenten, die Taten, die Motive und das Ausmaß der rassistischen Gewalt von Neonazi-Skinheads nicht zu benennen.

Polizei richtet eine "Soko 1990" ein

Die Polizei ermittelte damals wegen schwerer Brandstiftung, verdächtigt wurde vor allem eine Hausbewohnerin. Im August 1992, nach weniger als zwei Jahren, stellte die Staatsanwaltschaft Kempten die Ermittlungen ein. Nachdem Tagesspiegel und "Zeit Online" im September 2020 zum Stand des Verfahrens nachgefragt hatten, prüfte die Staatsanwaltschaft Kempten die alten Akten und stieß dabei auf das neonazistische Bekennerschreiben. Man habe schon 1990 den „Urheber des Schreibens im rechtsradikalen oder -extremen Bereich vermutet“, aber niemanden ermitteln können, teilte die Behörde mit. Nun übergab sie den Fall an die Generalstaatsanwaltschaft in München. Zuständig ist die dort angesiedelte Zentralstelle für Extremismus und Terrorismus (ZET). Die Polizei in Neu-Ulm richtete eine „Soko 1990“ ein. Ermittelt wird wegen des Verdachts auf Mord. Das ist rechtlich auch nach 30 Jahren noch möglich, da Mord nicht verjährt.

Wiederaufnahme der Ermittlungen ein "sehr wichtiges Signal"

„Dass sich die Gesellschaft und die Justiz in den vergangenen Jahrzehnten so verändert haben, dass jetzt auch selbstkritische Nachforschungen gefördert werden, stimmt uns auf jeden Fall hoffnungsvoll“, sagen Zeynep, Gökhan und Guney S. Die Geschwister haben inzwischen eine eigene Anwältin beauftragt. Die Jenaer Strafverteidigerin Kristin Pietrzyk vertritt seit Jahren Opfer rechtsterroristischer Anschläge. Von der Wiederaufnahme der Ermittlungen gehe ein „sehr wichtiges Signal aus“, sagt Pietrzyk. Die Verharmlosung des Anschlags als nur schwere Brandstiftung sei schon in den 1990er Jahren untragbar gewesen, die Einstufung als Mord lange überfällig.

Laut der Antwort des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) auf eine Anfrage der Grünen im Landtag prüft die Generalstaatsanwaltschaft nun auch mögliche Verbindungen zu den weiteren neonazistischen Brandanschlägen im Allgäu. „Wenn wir dem Extremismus juristisch nicht konsequent nachgehen, haben wir bereits gegen ihn verloren“, sagen die überlebenden Geschwister.

Weiterer tödlicher Fall im Allgäu bleibt offen

Bei einem anderen mutmaßlich rechtsextremen Tötungsverbrechen im Allgäu bleibt das Verhalten widersprüchlich. In der Nacht zum 26. April 2008 hatte in Memmingen der Rechtsextremist Alexander B. seinen Nachbarn Peter Siebert erstochen. Siebert hatte sich über die von B. laut abgespielte rechte Musik beschwert. Alexander B. tötete Siebert in dessen Wohnung mit einem Bajonett. Das Landgericht Memmingen verurteilte den Täter im Dezember 2008 in einem nur eintägigen Prozess wegen Totschlags zu acht Jahren und drei Monaten Haft. Die Richter sahen kein rechtes Motiv. Als der Tagesspiegel den Fall 2010 aufgriff, sagte der Sprecher des Gerichts, ein rechtsextremer Hintergrund sei wahrscheinlich. Dennoch passierte zunächst nichts.

Vor einem Jahr nannte der Tagesspiegel bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamts in Wiesbaden den Fall Siebert als Beispiel für unzureichende Aufklärung tödlicher rechter Gewalt. Das Polizeipräsidium Schwaben Süd/West wollte sich dann nochmal die Akten anschauen. Auf Anfrage sagte am Mittwoch der zuständige Sachbearbeiter, die Prüfung sei abgeschlossen. Es werde sich nicht mehr klären lassen, „ob es ein politisch motiviertes Delikt war“.

Der Täter sei grundsätzlich politisch motiviert gewesen, doch das habe bei der Tat nicht im Vordergrund gestanden. Alexander B. und Siebert hätten auch Streit wegen einer Frau gehabt. Sie sei erst mit Alexander B. zusammen gewesen, dann mit Siebert. Der Streit um die Musik sei dann hinzugekommen. Der Täter habe eine rechte Grundhaltung gehabt, die sei aber für die Tat „nicht ursächlich gewesen“, sagte der Sachbearbeiter. Die Polizei werde wegen des Falles Siebert nicht mehr ans Landgericht herantreten.

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