zum Hauptinhalt
Gedenkstunde in Schloss Bellevue. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel.

© REUTERS

Erinnerungspolitik: Das Helle und das Dunkle

Wie sollen die Deutschen des 9. November gedenken? Darum ist ein Streit entbrannt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Da sagte also der Bundespräsident: „Der 9. November ist ein ambivalenter Tag, ein heller und ein dunkler Tag. Er macht uns Herzklopfen und treibt uns Tränen in die Augen. Er lässt uns hoffen auf das Gute, das in unserem Land steckt, und er lässt uns verzweifeln im Angesicht seiner Abgründe. Vielleicht ist der 9. November gerade deshalb ein sehr deutscher Tag; ein Tag, der wie kaum ein anderer Auskunft gibt über unser Land. In meinen Augen ist der 9. November der deutsche Tag schlechthin.“

Und hat er nicht recht? Ja, hat er. Deshalb überrascht, dass der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, das nicht erkennt, sondern sich skeptisch zu Frank-Walter Steinmeiers Vorschlag eines Gedenktages äußert. Schusters Skepsis ist nur ein anderes Wort für Ablehnung.

Sicher, es sind mehrere historische Ereignisse, derer gleichzeitig gedacht würde. Aber Steinmeier hat die Verpflichtung und Verantwortung, die aus dem 9. November 1938 erwächst, so herausragen lassen in seiner Rede, wie es an einem Gedenktag natürlich auch geschähe. Aus der Singularität wird ein allgemeiner Anspruch. Und der Gedenktag würde ein Eingedenktag: Demokratische deutsche Politik ist ohne den Zivilisationsbruch im Sinn heute weder zu denken noch zu machen. Dialektisch gedacht, gäbe der Gedenktag der Shoah so gesehen noch viel mehr Bedeutung. Beachtung wäre garantiert.

Mehr noch: In diesem Zusammenhang könnte womöglich wirksamer als bisher an all das erinnert werden, was in zurückliegender Zeit dem Vergessen anheim gefallen zu sein scheint. Dass in den Novemberpogromen Synagogen zerstört und jüdische Geschäfte geplündert wurden, ist vermutlich noch im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Verschleppung von 30000 Menschen in Konzentrationslager und 1300 Tote im Zuge der Pogromnacht sind dagegen wenigen und weniger präsent.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Steinmeiers Vorschlag ist mithin eine Chance: weil er zugleich eine Zumutung ist. Im besten Wortsinn. Zugemutet wird den Deutschen, sich mit ihrer Geschichte auseinander zu setzen. Diese ambivalent zu nennen, bedeutet doch nicht, sie zu relativieren, im Gegenteil. Der 9. November steht immerhin im Grunde genommen für sogar vier einschneidende Ereignisse in Deutschland.

Für das Grauen 1938, ja, und dazu für den Tag 1848, an dem Robert Blum, Vorkämpfer der Demokraten für eine republikanische Verfasstheit des Staats, hingerichtet wurde; für den Tag der Ausrufung der Republik von 1918 durch Philipp Scheidemann und den Tag des Mauerfalls 1989. Geschichte von Rang, die keinem Ereignis den ihren nimmt: Historische Abfolge ist keine Rangfolge.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false