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Demonstration gegen Putins Krieg in Stuttgart (am 13. März 2022)

© dpa/Christoph Schmidt

Energie-Embargo und Waffenlieferungen: Putin muss gestoppt werden – auch ohne Berufung auf die deutsche Geschichte

Präsident Selenskyj fordert mehr deutsche Unterstützung im Ukraine-Krieg. Dabei ist eine historisch-moralische Aufladung der Debatte unnötig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ist Deutschland aus historisch-moralischen Gründen verpflichtet, seine Energie-Importe aus Russland sofort zu beenden? Darüber wird zwischen der Ukraine und der Bundesregierung gestritten.

Das Thema könnte auch vom Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, in seiner Rede an diesem Donnerstag vor dem Deutschen Bundestag angesprochen werden. Die USA haben bereits ein Öl-Embargo gegen Russland verhängt, die Europäische Union ist sich uneins, die Deutschen sind gespalten. Ex-Bundespräsident Joachim Gauck plädiert für eine Aktion „Frieren für den Frieden“.

Dmytro Kuleba, der Außenminister der Ukraine, sagte am Sonntagabend in der Anne-Will-Talkshow an die Adresse Deutschlands gerichtet: „Sie haben tatsächlich dazu beigetragen, die aktuelle Macht von Russland mit aufzubauen. Wir hoffen, dass auch Sie entsprechend viel leisten werden, um die russische Kriegsmaschinerie anzuhalten.“ Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, sagt, Deutschland trage die „gleiche historische Verantwortung für die Ukraine wie für Israel“.

Ukrainische Intellektuelle fordern Deutschland in einem Offenen Brief dazu auf, sich dem Energie-Embargo gegen Russland unverzüglich anzuschließen. „Wenn Sie nicht aufhören, den Angreifer zu finanzieren, haben Sie nicht mehr das Recht, ,Nie wieder!‘ zu sagen.“ Die Unterzeichner weisen auf die Verbrechen von Wehrmacht und SS an der slawischen und jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine hin und darauf, dass Millionen Ukrainer zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren.

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Die Bundesregierung befürchtet im Falle eines sofortigen Energie-Embargos für Öl, Gas und Kohle aus Russland gravierende soziale und wirtschaftliche Folgen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zufolge würde es zu „Lieferunterbrechungen, Armut und Massenarbeitslosigkeit“ kommen.

Zwei Argumentationsstränge ergänzen sich bei den Embargo-Befürwortern. Da ist zum einen das historisch begründete Verantwortungsargument Deutschlands für die Ukraine aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, zum anderen das aktuelle Mitfinanzierungsargument der russischen Aggression gegen die Ukraine durch Energie-Importe. Der erste Strang gründet sich auf deutsche Kriegsverbrechen, der zweite auf fahrlässigen Handel Deutschlands mit Russland.

Wehrmacht und SS wüteten in der Ukraine

Eine aus der Historie resultierende Verantwortung für gegenwärtige Zustände lässt sich nicht in Abrede stellen. Zu Recht bleiben Kolonialmächte auch nach der Souveränität ihrer ehemaligen Kolonien für deren politische und wirtschaftliche Entwicklung mitverantwortlich. Zu Recht beschäftigen sich Einwanderungsländer mit ihrer Rassismus-Geschichte, siehe USA.

Deutschland wiederum weiß sich bis heute für die im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen verantwortlich. Das drückt sich unter anderem aus in einem besonderen Verhältnis zu Polen und Frankreich, der Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“, Reparationszahlungen. 

In diesem Sinne ist es keineswegs abwegig, auch eine historisch begründete Verantwortung Deutschlands gegenüber der Ukraine zu postulieren. Mehrere Millionen Menschen wurden dort von Wehrmacht und SS umgebracht. Es gab Massenerschießungen, Bombardements auf Städte, Deportationen in die Zwangsarbeit.

Aber die Sache ist kompliziert, weil in den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine zwei Länder involviert sind, deren Völker im „Großen Vaterländischen Krieg“ beide zu Opfern deutscher Verbrechen geworden waren. Auch Russen wurden millionenfach ermordet. Auch daraus erwuchs Deutschland eine Verantwortung.

Daran erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Die Zeichen des Krieges fänden sich von der Weißmeerküste im Norden bis zur Krim im Süden, von den Ostseedünen im Westen bis Wolgograd im Osten. „Orte wie Mizocz, Babyn Jar und Korjukiwka in der Ukraine, wie Rshew in Russland, wie Malyj Trostenez und Chatyn in Belarus“ – in denen Deutsche unvorstellbare Grausamkeiten begangen hatten -, seien auch Orte deutscher Geschichte, sagte Steinmeier.

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Fast jede Familie in den baltischen Staaten, der Ukraine, Russland und Belarus wurde vom Krieg berührt. Insgesamt kamen dort 27 Millionen Menschen ums Leben, etwa 7,4 Millionen Zivilisten wurden umgebracht. In Stalingrad wurde bei minus 40 Grad zum Teil mit Spaten und Messern gekämpft. Und nur der Vollständigkeit halber: Bei Leningrad wurde der Vater von Wladimir Putin durch eine deutsche Handgranate schwer verwundet, Putins Mutter verhungerte fast während der Belagerung, sein Bruder starb an Diphterie.

Solche Fakten müssen ausgehalten werden. Ganz widerspruchsfrei lassen sich geschichtliche Entwicklungen manchmal nicht in eindeutige Handlungsanleitungen übersetzen. Es ist durchaus möglich, dass in den aktuellen Kämpfen um Kiew der Urenkel eines russischen Stalingrad-Überlebenden durch deutsche Waffen getötet wird.

Deutschland finanziert Krieg durch Energie-Importe

Sind Waffenlieferungen an die Ukraine deshalb falsch? Nein. Aber es reicht aus, sie als Gebot des Eintretens für Souveränität und für ein friedliches Zusammenleben in Freiheit zu verteidigen. Putin muss gestoppt, seine Aggression beendet werden. Das liegt auf der Hand. Es bedarf zu dieser Erkenntnis nicht einer Berufung auf die Geschichte.

Das zweite Argument für ein Energie-Embargo ist wirtschaftlicher Natur. Deutschland finanziere den Krieg durch seine Energie-Importe mit, lautet der Vorwurf. Das stimmt. Der deutsche Junkie hat den russischen Dealer reich gemacht. Davor wurde vor mehr als einem Jahrzehnt inständig gewarnt. Passiert ist nichts. Ein Skandal.

Allerdings stärkt jeder Handel mit nichtdemokratischen Ländern autoritäre Regierungsformen. Die Wirtschaftsbeziehungen mit China ermöglichen der kommunistischen Führung, Uiguren und Tibeter zu drangsalieren. Das aber wird als Preis für unseren Wohlstand zähneknirschend in Kauf genommen.

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Außerdem pumpt nicht allein Deutschland Geld in Putins Russland. Innerhalb der EU deckt Polen rund 60 Prozent seines Ölbedarfs und 55 Prozent seiner Gasimporte aus Russland. Bulgarien ist zu 70 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig. Zwei Drittel des finnischen Gases und des finnischen Erdöls stammen aus Russland. Die Tschechische Republik importiert 90 Prozent ihres Erdgases aus Russland.

Würden alle EU-Länder ein Importverbot für russische Energie verhängen, würde Putin das mittel- und langfristig empfindlich treffen. Die Option muss weiter geprüft werden. Allerdings ist unklar, ob es unmittelbare Auswirkungen auf den Kriegsverlauf hätte. Wenn aber die Erfolgsaussicht einer solch drastischen Maßnahme ungewiss ist, während ihr Schaden für viele EU-Volkswirtschaften relativ präzise ermittelt werden kann, sollte zumindest Vorsicht walten.

Deutschland muss an der Seite der Ukraine stehen – und tut dies auch. Um eine solche klare Positionierung zu begründen, reichen Verweise auf Völkerrecht, Humanität und Menschenrechte. Eine historisch-moralische Aufladung der Debatte, um aus Schuld Bringschuld abzuleiten, ist unnötig. Die Deutschen müssen helfen. Aber nicht, weil sie Deutsche, sondern weil sie Menschen sind.

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