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Ein Grabstein erinnert in der Gedenkstätte Bergen-Belsen unter anderem an Margot und Anne Frank.

© Julian Stratenschulte/dpa

Einweihung der ersten KZ-Gedenkstätte: Was die Deutschen wussten, aber nicht wissen wollten

Am 30. November 1952 weihte Bundespräsident Theodor Heuss die Gedenkstätte in Bergen Belsen mit einem Schuldbekenntnis ein. Ein historischer Moment.

Neben den furchtbaren Erfahrungen des verlorenen Krieges und der Millionen Opfer war es auch eine Lebenslüge, die viele deutsche Überlebende des Zweiten Weltkrieges miteinander verband. Es war die selbst beschwörende Aussage, man habe „von all dem“ nichts gewusst.

Nichts gewusst angeblich von der massenhaften Vertreibung der deutschen Juden aus den Dörfern und Städten, nichts gewusst vom Massenmord an abertausenden von Menschen, von denen ja viele auch Nachbarn gewesen waren, oder Arbeitskollegen. Nichts gewusst von der Tötung von Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa.

Vor 70 Jahren, am 30. November 1952, durchbrach Bundespräsident Theodor Heuss mit einer Rede in Bergen Belsen, auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers, erstmals öffentlich diesen Teufelskreis des kollektiven Leugnens (hier die Rede zum Nachlesen).

Er stieß dabei auf eine Mauer des Schweigens. Denn wer in den ersten Nachkriegsjahren diese Unwahrheit als das entlarven wollte, was sie war – nichts als eine Schutzbehauptung, eine Selbstexkulpierung – der fand kein Gehör.

Schuldig gesprochen wurden sie beiden, aber die Brutalität der Täterinnen löst oft mehr Entsetzen aus als die der Männer - hier Irma Crese. Aufseherin im KZ Bergen-Belsen, und Lagerkommandant Joseph Kramer, vor dem Gefängnis in Celle im September 1945.

© Ullstein

Wie die Strafverfolgung der Täter erschwert und hintertrieben wurde, erlitt neben vielen anderen der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer bei seinen Versuchen, die Verantwortlichen für die Massenmorde mit den Mitteln des Rechtsstaates ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen.

Und wer den Mantel des Verschweigens in öffentlicher Rede zur Seite ziehen wollte wie es der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, tat, den versuchten die Betroffenen durch Weghören zum Verstummen zu bringen.

Ortsnamen bisher heiterer Erinnerung, über die jetzt eine schmutzig-braune Farbe geschmiert war.

Theodor Heuss

Vor 70 Jahren, am 30. November 1952, sagte das Staatsoberhaupt bei der Einweihung der ersten KZ-Gedenkstätte auf deutschem Boden in Bergen Belsen: „Wir wussten von Dachau, Buchenwald bei Weimar, Oranienburg, Ortsnamen bisher heiterer Erinnerung, über die jetzt eine schmutzig-braune Farbe geschmiert war… Wir haben von den Dingen gewusst. Wir wussten auch aus den Schreiben evangelischer und katholischer Bischöfe … von der systematischen Ermordung der Insassen deutscher Heilanstalten…“

Das Schuldbekenntnis von Bundespräsident Theodor Heuss aus dem Jahre 1952 ist weitgehend aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden. Denn Heuss hatte an etwas erinnert, was, sieben Jahre nach dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, jeder erwachsene Deutsche wissen konnte, wissen musste.

Blick in den Gerichtssaal in Lüneburg während der Verhandlung gegen den ehemaligen Lagerleiter Josef Kramer.

© picture alliance / dpa

Was aber zu vergessen die Deutschen fest entschlossen waren. Denn nur aus der Selbstschutzbehauptung des „Davon haben wir nichts gewusst!“ konnte jenes trotzige Leugnen wachsen, nur so konnte jene Lebenslüge die überlebenden Volksgenossen im Beschweigen verbinden, das sich wie eine Decke über Deutschland ausbreitete. Weil in Wahrheit alle Mitwisser gewesen waren, hatte kaum einer Interesse daran, das Lügengespinst zu zerreißen.

Noch 1985, am 8. Mai, dem 40. Jahrestag der Kapitulation, und 33 Jahre nach der Bergen-Belsener Rede von Theodor Heuss, war das selbstverordnete Dunkel so undurchdringlich, dass die Beschwörung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, dieser Tag sei ein Tag der Befreiung gewesen, von der Tätergeneration vielfältig nicht widerspruchslos hingenommen wurde.

Da musste erst die Wehrmachtsausstellung der Neunziger Jahre Bild für Bild zeigen, wie die Wehrmacht an der Ermordung der Juden und der sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt war, um auch diese Lebenslüge von der Unschuld der deutschen Männer in Uniform als Selbsttäuschung zu entlarven.

Das Archivbild vom 12.09.1949 zeigt Professor Theodor Heuss bei seiner Vereidung zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages, Erich Köhler.

© picture-alliance / dpa

Da musste erst der Historiker Götz Aly nachweisen, wie die – arischen – deutschen Akademiker geradezu darauf lauerten, bis die jüdischen Deutschen von ihren Positionen als Ärzte, Juristen und Verwaltungsbeamte verjagt worden waren, damit sie deren Platz einnehmen konnten. Es war Aly, der schilderte, wie die führertreuen „guten“ Deutschen in die Wohnungen einzogen, aus denen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vertrieben worden waren.

Was erklärt die Gleichgültigkeit vieler Deutscher gegenüber dem Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten gegen die Juden, die Theodor Heuss vor 70 Jahren beklagte? Es war nicht nur der seit Jahrhunderten in Europa verbreitete, religiös grundierte Antisemitismus, der die Anhänger Hitlers antrieb; auch nicht der Neid auf jüdisches Besitztum. Nein, es war die furchtbare Vorstellung von der allen anderen Ethnien überlegenen germanischen Rasse, und die Einstufung jüdischen Lebens als grundsätzlich minderwertig, das Täter und Mitwisser trieb.

Auch in Lagern auf deutschem Boden wurden zehntausende umgebracht

Die Vernichtungslager der Nationalsozialisten wie in Auschwitz, Majdanek und Treblinka lagen nicht auf dem Territorium des deutschen Reichs, sondern in den von der Wehrmacht eroberten und besetzten Gebieten. Das hatte aus der zynischen Sicht der SS den Vorteil, dass die Opfer schneller der Ermordung anheim fallen konnten, und dass die deutsche Zivilbevölkerung nichts davon mitbekommen sollte.

Da die Wehrmacht an den Mordaktionen beteiligt war, blieben sie dennoch nicht lange verborgen. Aber auch in den Lagern auf deutschem Boden wie in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen bei Oranienburg wurden zehntausende umgebracht.

In Bergen Belsen im Kreis Celle starben bis zur Befreiung des Lagers durch britische Truppen am 15. April 1945 mehr als 50.000 Menschen, Juden aus vielen Ländern Europas, unter ihnen Anne Frank und ihre Schwester Margot, und Kriegsgefangene vor allem aus der Sowjetunion. Die vor Entsetzen fassungslosen britischen Soldaten fanden auch tausende von Toten, die, unbestattet, an den Wegen des KZs lagen.

Ziemlich schnell nach der Eröffnung der Gedenkstätte geriet sie für viele Jahre nahezu in Vergessenheit. Erst Mitte der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, mit dem Generationenwechsel, fanden sich wieder genügend gesellschaftliche und politische Kräfte, die aus der fast vergessenen Gedenkstätte einen Ort der Erinnerung  und Besinnung machten. Heute kommen jedes Jahr mehr als 200.000 Besucherinnen und Besucher, vor allem Jugendgruppen und Schulklassen.

Theodor Heuss hatte den Begriff der Kollektivschuld abgelehnt. Er sprach von der Kollektivscham, die die Deutschen empfinden sollten. Sein Appell war vergeblich. Dass das erste Staatsoberhaupt des demokratischen Nachkriegsdeutschland die Mauer des Schweigens durchbrechen wollte, dass er dies an einem Ort der deutschen Schande tat, wurde von seinen Zeitgenossen beschwiegen. Vergessen ist es nicht.

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