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Schwierige Lage. Die meisten europäischen Staaten haben sich Großbritanniens Premierministerin Theresa May angeschlossen und sich gegen Waldimir Putins Russland positioniert.

© Saul Loeb/AFP

Europa und Russland: Einigkeit des Westens ist für Putin neu

Alle 28 EU-Staaten verurteilen gemeinsam den Giftanschlag auf einen russischen Doppelagenten - 24 Staaten und die Nato weisen russische Diplomaten aus: Europa zeigt, dass es zusammensteht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Ein diplomatischer Knall ist das auf jeden Fall. In Europa wohl der lauteste seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Neuordnung der politischen und militärischen Machtordnung in Mitteleuropa. 146 von Moskau entsandte Diplomaten wurden von der Nato und aus 24 Staaten ausgewiesen. Staaten, die man wegen ihrer demokratischen, liberalen Grundordnung als den Westen bezeichnet. Dass sich an der Aktion auch die USA, Kanada und Australien beteiligten, weitet die Dimension des Geschehenden über den Rahmen der Europäischen Union in den Kernbereich des Bündnisses und des wichtigsten pazifischen Verbündeten. Was hier gerade geschieht, geht deutlich über den Rahmen der politischen Standardgesten hinaus.

Die gemeinsame Aktion ist eine Re-Aktion auf den Giftstoffanschlag, der sich im englischen Salisbury gegen den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia richtete. Die britische Regierung hat ihre Partner in der Europäischen Union und darüber hinaus davon überzeugt, dass hinter dem Angriff mit großer Wahrscheinlichkeit russische Stellen stecken, die im Auftrag des Kreml, also Putins, handelten.

Beweise gibt es nicht, nur Geheimdienstinformationen. Mit denen kann auf undurchschaubare Weise manipuliert werden, sagen die Kritiker der kollektiven Bestrafungsaktion und erinnern daran, wie George W. Bush im Jahr 2002 auf der Basis schon damals überaus durchsichtiger Geheimdienstberichte dem irakischen Regime Saddam Husseins den Besitz von Massenvernichtungswaffen zuschrieb und so die Invasion begründete.

Schon ein Jahrzehnt lang sucht Russland eine neue Rolle in Europa

Wenn jetzt alle 28 EU-Staaten in einer gemeinsamen Erklärung den Giftanschlag verurteilen und feststellen, es gebe zu Russland als Drahtzieher keine plausible Alternative, ist das freilich eine realistischere Einschätzung. Es ist auch das Resultat eines seit mehr als einem Jahrzehnt wachsenden Missbehagens über die Rolle, die Russland wieder in Europa spielen will. Da waren die Besetzung der Krim und zuvor der Krieg gegen Georgien. Dann kam die bis heute anhaltende Subversion in der Ost-Ukraine.

Es folgten die Manöverdrohungen einer immer machtbewussteren militärischen Großmacht gegen die baltischen Staaten. Und da ist der von Deutschland in seiner ganzen Dimension bis heute nicht begriffene Versuch Russlands, über die Erdgasleitungen durch die Ostsee ein Sonderverhältnis zwischen diesen beiden Ländern zu begründen – eines, das auf Ängste von Staaten wie Polen oder der Ukraine keine Rücksicht nimmt.

Für Theresa May mag der Giftangriff auf Skripal und seine Tochter willkommener Anlass gewesen sein, ihr über den Brexit und seine Folgen tief zerstrittenes Land angesichts einer äußeren Bedrohung zu einen und ihre eigene, überaus labile Position zu festigen. Ziemlich radikale Äußerungen ihres ohnehin nicht für Zurückhaltung bekannten Außenministers Boris Johnson über Putin verstärken diesen Eindruck noch. Außerdem hat May wohl erst jetzt erkannt, welches Ausmaß das politische Netzwerk russischer Milliardäre erreicht hat, die in der wirtschaftsliberalen Atmosphäre Londons, mit Billigung der Kremlführung, immer mehr Einfluss gewinnen.

#Aber die Solidarität, die der Westen jetzt aus eigener Kraft und nicht etwa auf Druck der USA demonstriert, ist weit über die britischen Intentionen vor allem ein ganz bewusster Ausdruck des Selbstbehauptungswillens und der Einigkeit innerhalb der Europäischen Union.

Sicher: Bulgarien, Griechenland und Österreich machen bei der mehr symbolischen als wirklich schmerzhaften und ohnedies nicht dauerhaften Ausweisung von russischen Diplomaten aus sehr unterschiedlichen Beweggründen nicht mit. Aber für Wladimir Putin ist die Einigkeit im Westen eine neue Erfahrung. Denn Europa zeigt auf einmal, dass es, trotz des drohenden Brexit, trotz des Streits um das Europa der zwei Geschwindigkeiten und trotz der Differenzen zwischen dem Süden und dem Norden, dem alten und dem neuen Europa, zusammensteht, wenn Gefahren drohen.

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