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Berlin Kreuzberg, der Wochenmarkt am Maybachufer, auch Türken-Markt genannt

© Kai-Uwe Heinrich

60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei: Einen roten Teppich gab es nicht

Berlin hat die größte türkeistämmige Bevölkerung außerhalb der Türkei. Rückblick auf eine unwahrscheinliche Geschichte, die ein Grund zum Feiern ist.

Barbara John war von 1981 bis 2003 die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats

Was im Internet oft in Frage gestellt wird, stimmt tatsächlich: Berlin ist weltweit die Stadt mit der größten türkeistämmigen Bevölkerung (dazu zählen Türken, Kurden, Lasen, Armenier) außerhalb der Türkei. Mit zweihunderttausend Menschen, die familiäre Wurzeln im Land am Bosporus haben.

Wenn das kein Grund ist, am Dienstag (5. Oktober) im Haus der Kulturen der Welt mit Bundespräsident Walter Steinmeier einen weithin sichtbaren Festakt zu begehen zum 60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei.

Es wurde am 30. Oktober 1961 geschlossen. Gastgeber der Feier ist die Türkische Gemeinde in Deutschland, die bundesweite Dachorganisation von etwa 260 Einzelvereinen.

Nach dem Mauerbau brachte West-Berlin Zuzug

Obwohl das Abkommen für Berlin eine existenzielle Bedeutung hatte, nach der Teilung durch den Mauerbau im August 1961, ist der neuen Stadtbevölkerung kein roter Teppich ausgerollt worden.

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Dennoch gelang, was anfänglich unmöglich schien: Als Gastarbeiter, auf Zeit gekommen, gehören heute die Berlinerinnen und Berliner mit Türkeibezug zur respektierten und erfolgreichen Bürgerschaft in Berlin.

Nichts fiel für sie vom Himmel. Ein großer Teil kann aus dem südöstlichen Anatolien, schlecht entlohnte, hart arbeitende Männer und Frauen vom Lande.

In Berlin waren die Löhne höher, die Arbeitsbedingungen besser - trotz des Akkord- und Schichtdienstes bei Siemens, der DeTeWe und der AEG. Sie wohnten in Abrisshäusern in Kreuzberg und Neukölln und träumten von Rückkehr und vom Bleiben gleichzeitig. Der Familiennachzug glich, bis weit in die neunziger Jahre, einem mit Wackersteinen  gepflasterten Hürdenlauf.

Türkische Läden und Imbissbuden belebten ganze Stadtteile wieder

Mit dem Ölpreisschock 1973 schrumpften für sie die Chancen im Arbeitsmarkt. Viele, die blieben, wichen aus in die Selbständigkeit. Dagegen gab es massive politische Verbote, es hieß: Wir haben Arbeitnehmer angeworben, keine Unternehmer.

Aber mit ihren Läden und Imbissbuden brachten sie Geschäftigkeit und Geselligkeit zurück in bereits verlassene Stadtteile. Wer darüber jammerte, in Neukölln beispielsweise, übersah demonstrativ die wiedergewonnenen urbanen Potentiale. Heute gehören mehr als 9000 kleine, mittelständische und auch große Betriebe mit internationaler Ausstrahlung dazu.

Im Zusammenleben mit den Einheimischen passierte in kleinen Schritten, was in Migrationstheorien langatmig beschrieben wird, sich aber auch in zwei Zeilen ausdrücken lässt: Zuerst wichen sie voreinander aus, dann handelten sie miteinander, dann aßen sie zusammen und schließlich heirateten sie untereinander. Allen Vorurteilen zum Trotz, den falschen und den zutreffenden Zuschreibungen. Noch ein Grund, sich zu freuen über die besonderen türkisch-deutschen Beziehungen in Berlin.

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