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Das Hayder-Hospital in der Provinzhauptstadt Mekele hat mehr als 500 Betten.

© Yasuyoshi CHIBA/AFP

Hayder-Hospital in Mekele: Ein Ort der Sicherheit für die Versehrten von Tigray

Im Hayder-Krankenhaus versorgen Ärzte Opfer der Krisenregion Tigray. Sie haben die Gräueltaten des Krieges erfahren. Der Terror hinterlässt Narben. Ein Besuch vor Ort.

Im Hayder-Hospital in Mekele, der Hauptstadt der äthiopischen Tigray-Provinz geht es überraschend lebhaft zu. Teenager rasen in Rollstühlen durch die Gänge, in denen Patienten auf Matratzen am Boden liegen: Dazwischen sitzen unversehrte junge Männer über ihre Smartphones gebeugt. Das Hospital ist einer der wenigen Orte in Mekele mit Internet-Empfang. Und Krankenhausdirektor Mussie Tesfay hat nichts dagegen, dass auch Studenten davon profitieren.

In einem Raum im 3. Stock sind fünf Betten mit sehr jungen Patienten belegt. Vier Jungs und ein 15-jähriges Mädchen, das in farbenfrohe Tücher gehüllt auf seinem Lager kauert. Beriha Gebray schaut apathisch: Ihr rechtes Auge ist auf die Hände in ihrem Schoß gerichtet, ihr linkes Auge gibt es nicht mehr.

Die Ärzte haben ein Stück Haut von ihrem Hals auf die Augenhöhle transplantiert: Vor der zweiten Operation habe man noch durch ein Loch durch Berihas Kopf schauen können, erzählt ihr Vater. Die Gewehrkugel war an der rechten Seite ihres Schädels zwischen Ohr und Auge eingedrungen und hatte ihren Kopf durch die linke Augenhöhle verlassen. Weil sie auf ihrem Weg auch den Sehnerv des rechten Auges durchtrennte, ist das Mädchen seit mehr als zwei Monaten blind. „Ich bin so froh, dass sie noch lebt“, sagt ihr Vater Gebray Zenebe.

„Wir hatten noch einmal Glück“

Der Farmer aus dem Provinzstädtchen Samre sitzt seit mehr als zwei Monaten neben seiner Tochter, streicht ihr immer wieder mit der Hand über die Haare oder zupft ihr Kopftuch zurecht. Seit Mitte April ist der Vater nicht von Berihas Seite gewichen: Nachts krümmt er sich auf dem Plastikstuhl.

Statt Hass oder Bitterkeit sind in Gebrays Worten und seinem Gesicht nur Dankbarkeit und Zuneigung zu seiner Tochter auszumachen. „Viele meiner Nachbarn haben ihre Kinder verloren“, sagt der 43-Jährige: „Wir hatten noch einmal Glück.“

Berihas Qual begann am 15. April mit dem zweiten Einmarsch eritreischer Soldaten in Samre. Die Soldaten seien schießend durch das Städtchen gezogen, berichtet Gebray: Daraufhin habe Berihas Großmutter ihrer Tochter geraten, mit den drei Kindern das Weite zu suchen. Ein eritreischer Scharfschütze sah die vier Fliehenden und gab 26 Schüsse ab: Einer traf ihren Bruder ins Bein, ein anderer Beriha am Kopf. Alle vier stürzten zu Boden.

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Der Mutter gelang es, den verletzten Sohn und ihre bewusstlose Tochter in Sicherheit zu bringen. Anderntags brachte Gebray seine erstgeborene Tochter zu einem Arzt, der sie ins Hospital ins knapp 60 Kilometer entfernte Mekele überwies. Dort wurde Beriha dreimal operiert.

„Wir Tigray haben den Ruf, uns niemals zu ergeben“

Er erinnere sich noch an den äthiopischen Bürgerkrieg vor mehr als 30 Jahren, als Rebellen der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) gegen den „roten Terror“ der Derg-Offiziere kämpften, erzählt Gebray. Trotz ihres miserablen Rufs hätten sich deren Soldaten nie an der Zivilbevölkerung oder gar an Kindern vergriffen. „Was in den vergangenen Monaten hier passierte, ist völlig neu für uns“, sagt Berihas Vater ruhig: „Ich hoffe, die Eritreer wissen, was sie tun.“

Zwei Monate vor dem Vorfall mit seiner Tochter hätten Samres Bewohner die Brutalität der Eritreer zu spüren bekommen, fährt Gebray fort: Bei ihrem ersten Einmarsch im Februar habe eine Familie gerade die Taufe eines Kindes gefeiert. Die Soldaten raubten den Frauen Schmuck, teilten das Essen unter sich auf und erschossen fünf Männer, darunter den Gastgeber.

„Wir in Tigray haben den Ruf, uns niemals zu ergeben“, sagt Gebray: „Deshalb wollen uns die Eritreer alle töten.“ Müsste er sich nicht um seine Tochter kümmern, hätte er sich längst den Kämpfern der „Tigray Defense Force“ (TDF) angeschlossen. „Es ist besser, mit einer Waffe in der Hand als wehrlos zu sterben.“

Ärzte versorgen einen Verletzten.

© Yasuyoshi CHIBA / AFP

Im Hayder-Hospital mit ihren mehr als 500 Betten sitzt wenige Räume entfernt die vierjährige Samrawit. Ein ausgetüfteltes Metallgestell fixiert ihr rechtes Bein, es lässt auf einen komplizierten Knochenbruch schließen. Samrawit schaut mit großen dunklen Augen entsetzt in die Welt. Sie musste vor zwei Monaten mit ansehen, wie acht Angehörige von eritreischen und äthiopischen Soldaten ermordet wurden.

Sie habe als einzige das Massaker in ihrem Gehöft in Debre Salam überlebt, sagt ihr Vater Gebre Hewit. Er selbst überlebte, weil er war an jenem Tag zufällig nicht zu Hause war.

Mit einem Messer das Bein aufgeschlitzt

Die Nachbarin berichtete ihm später, was vorgefallen war. Soldaten seien in sein Haus eingedrungen und hätten wissen wollen, wo sich die „Terroristen“ der TDF befänden. Als sie keine befriedigende Antwort erhielten, erschossen sie Gebres Frau und seinen Vater, eine seiner Töchter, seinen Bruder und dessen Frau mitsamt ihren drei Kindern.

Auch die vierjährige Samrawit wurde von einer Kugel am Arm getroffen – die Soldaten schlitzten ihr zudem mit einem Messer das rechte Bein auf. Ein schwer erträgliches Foto der Verletzung hat ihr Vater auf seinem Handy gespeichert. Er sei bereit, vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag auszusagen, sagt Gebre: „Falls sich hier mal jemand blicken lässt.“

„Wenn wir täglich fünf verletzte Köpfe öffnen“, sagt ein Neurochirurg der Klinik, „müssen wir fünf ungeöffnet lassen, weil unsere Kapazitäten nicht ausreichen“. Wiederholt hätten Soldaten das Hospital geplündert, fährt der Arzt fort: „Sie haben unsere Geräte zerstört – darunter auch ein MRT – und haben uns vom Stromnetz getrennt.“ Er sei hier seit mehr als zwanzig Jahren tätig, fährt der Arzt fort, der anonym bleiben will: „Etwas Vergleichbares habe ich noch nicht erlebt.“

Er meint damit auch die Frauen und Mädchen, die sich nur wenige Stunden in der Klinik aufhalten, bevor sie in ein „Safe House“ gebracht zu werden: In dem geheimen Ort sollen derzeit 190 Opfer von Vergewaltigungen untergebracht sein. Seit Beginn der Besatzung im vergangenen November seien fast 1600 Fälle von Vergewaltigungen registriert worden, Hospitaldirektor Mussie: Doch die tatsächliche Zahl sei wesentlich höher, weil viele nicht ins Krankenhaus kommen könnten oder ihnen ihre Tortur zu peinlich sei.

Kalaschnikow auf sie gerichtet

Tirhas, eine 22 Jahre alte Frau in blaugrünen Wollpullover, erzählt leise aber bestimmt von dem Vorfall, der sie ins Krankenhaus brachte. An einem Sonntagmorgen im Mai, ihre Eltern waren in der Kirche, seien eritreische Soldaten in ihrem an der Straße zwischen Adua und Abiy Addi gelegenen Gehöft aufgetaucht.

Mit ihr sei ihr jüngerer Bruder sowie ihre schwangere Schwägerin und ihr dreijähriges Kind am Ort gewesen. Erst hätten sich die Soldaten auf ihren Bruder konzentriert: „Sie wollten ihm die Gurgel aufschneiden“, berichtet Tirhas, die ihren wahren Namen aus Angst nicht preisgeben will. Am Ende hätten sie sich damit begnügt, ihn mit Stöcken grün und blau zu schlagen. Als Tirhas schauen wollte, ob ihr Bruder noch lebte, stürzten sich die Soldaten auf sie: Einer hielt seine Kalaschnikow auf sie gerichtet, der andere würgte sie.

Mit jedem Wort der Erinnerung weicht Tirhas anfängliche Beherrschung, Tränen tropfen auf den Pullover. Der Soldat mit der Hand an Tirhas’ Gurgel habe sie schließlich zu Boden geworfen und gefragt, wo sich die Terroristen versteckt hielten. Als sie „ich weiß es nicht“ antwortete, vergewaltigte er sie und überließ sie danach seinem Kameraden. Auch der machte sich über sie her. „Und das alles vor den Augen meiner kleinen Nichte“, sagt Tirhas. Sie solle sich etwas anderes anziehen, weil sie später wiederkämen, verabschiedeten sich die Soldaten.

Tirhas floh, bevor es dazu kommen konnte. Zwei Dorfbewohner zeigten ihr den Weg in die Hauptstadt Mekele, wo sie im Safe House Unterschlupf fand. Deren Leiterin berichtet von dem „entsetzlichen Umstand“, dass sich unter den Vergewaltigten so viele ältere Frauen, Mütter und Großmütter, befänden.

An Soldaten „verkauft“

Offenbar käme es den Soldaten nicht darauf an, jungen Mädchen ihren Willen aufzuzwingen oder ihre Macht spüren zu lassen: „Vielmehr suchen sie das Zentrum der Gemeinschaft, gestandene Frauen, zu zerstören.“ Den Soldaten würden die Vergewaltigungen von ihren Vorgesetzten ausdrücklich befohlen, will die Leiterin des Frauenhauses wissen: Einige Soldaten betränken sich, um den Befehl ausführen zu können.

Im Fall von Alema war es anders. Die 17-Jährige hatte einen Job als Haushälterin bei einem Eritreer in dem Grenzstädtchen Irob angetreten: Sie wollte ihrem Vater nicht länger auf der Tasche liegen. Eines Nachts habe sie ihr Arbeitgeber an fünf eritreische Soldaten „verkauft“: Einer nach dem anderen sei in ihr Zimmer gekommen und habe sich über sie hergemacht.

Als sie zu weinen anfing, sagte einer der uniformierten Eritreer zu ihr: „Hör auf zu heulen, sonst tun wir, was wir Zuhause mit Frauen wie dir tun: Wir stecken ihnen Metallteile in die Scheide.“ Am Morgen gab ihr der schockierte Bruder ihres Arbeitgebers Geld, um in ein nahegelegenes Hospital zu fahren. Alema wählte jedoch den weiten Weg bis in die Hauptstadt Mekele: Dort erfuhr sie zwei Monate später auch, dass sie schwanger war.

Vor zwei Wochen wurde ihr eine Abtreibung ermöglicht. Ihre Mutter war darüber erbost: Ihr hatte Alema aber auch nichts von den Vergewaltigungen erzählt, aus Scham. Zunächst hätte sie jeden Soldaten, dem sie begegnete, umbringen wollen, fährt das Mädchen fort. Doch als sie im Safe House sah, wie viele Frauen den Soldaten zum Opfer fielen, habe sie sich etwas beruhigt. „Ich war zumindest nicht die einzige, die das erleiden musste.“

Nicht nach Feiern zumute

Alema würde lieber heute als morgen nach Hause zurückkehren. Doch Irob wird noch immer vom eritreischen Militär kontrolliert, auch nach dem Abzug Tausender äthiopischer Soldaten ist die Provinz längst nicht von allen Besatzern befreit. Klinik-Chef Mussie ist deshalb auch nicht nach Feiern zumute.

Der Anästhesist erzählt von dem Tag Anfang des Jahres, den er mehr als alle anderen bereue: Als die äthiopische Präsidentin Sahle-Work Zewde nach Mekele kam, um sich ein Bild von den Verhältnissen in Tigray zu machen. Die Präsidentin hat vor allem repräsentative Funktion: Die Regierungsgeschäfte werden vom Premierminister Abiy Ahmed geführt.

Bei ihrem Besuch habe die Präsidentin unbedingt auch mit den Opfern der Vergewaltigungen sprechen wollen, fährt Mussie fort. Widerwillig habe man zugestimmt, weil die Präsidentin mit ihrem Sicherheitstrupp unterwegs war: Eine Zumutung für Frauen, die von uniformierten Vertretern der Staatsmacht missbraucht worden sind.

Beim Besuch der Vergewaltigten habe die Präsidentin „geweint wie wir alle“, erzählt der 33-jährige Mussie: Doch in den kommenden Tagen habe sie in der Öffentlichkeit kein Wort darüber verloren, was sie bei ihrem Besuch im vor Ort erfahren hatte. „Ich hätte von unserer Präsidentin anderes erwartet“, sagt Mussie und bricht noch einmal in Tränen aus.

Johannes Dieterich

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