zum Hauptinhalt
Rund eine Million Flüchtlinge kamen im Jahr 2015 nach Deutschland.

© dpa

Deutschland, Flüchtlinge und die EU: Ein Land im Wandel

Die Zuwanderung von Flüchtlingen hat unser Land 2015 verändert. Dabei bleibt als moralischer Imperativ stehen: Wir wollen das schaffen. Ein Kommentar zum Jahresende.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Noch nie seit der Wiedervereinigung wurde dieses Land so durchgeschüttelt wie 2015. Am 19. August warnte Innenminister de Maizière, Deutschland müsse sich auf die Zuwanderung von vermutlich 800.000 Flüchtlingen einstellen. Von da an durchlebten wir ein Wechselbad der Gefühle.

Auf der einen Seite zehntausende ehrenamtlicher Helfer, soziale Organisationen, Polizei, Verwaltungen, die verzweifelten Menschen vor allem aus dem Mittleren Osten ein Gefühl der Sicherheit vermittelten, ihnen freundlich begegneten. Und auf der anderen Seite brennende Flüchtlingsunterkünfte, die hässliche Fratze blanken Hasses und ein Vokabular, dessen sich anständige Bürger schämen würden.

Dieses Land wirkt wie eine Insel der Stabilität

Das alles ist Deutschland im Dezember 2015. Ein Land im durch die Umstände erzwungenen Wandel. Wer behauptet, es hätte rechtsstaatliche und gewaltfreie Mittel gegeben, sich abzuschotten, alles zu lassen, wie es war, träumt sich die Wirklichkeit zurecht. Deutschland ist seit langem mehr als andere Staaten Europas Ziel der durch Krieg und Gewalt Entwurzelten. Dieses Land wirkt wie eine Insel der Stabilität, ist ein sozialer Staat. Der mit dem österreichischen Bundeskanzler gefasste Entschluss Angela Merkels, die Grenzen zu öffnen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, verstärkte nur, was ohnehin da war.

Die Offenheit machte unser Land nicht nur zum Ziel der Sehnsüchte vieler, die in einer geordneten Welt leben wollen, sondern auch zu einem gefragten Partner in der globalen Diplomatie. Unser Gewicht in der Weltpolitik ist gewachsen, weil die Handlungsprinzipien der Kanzlerin und ihres Außenministers als rational und abwägend geschätzt werden.

Angela Merkel hat in der EU Ansehen verloren

Als Angela Merkel unabgesprochen mit der EU von dieser Linie abwich, mit der Grenzöffnung in der Nacht auf den 5. September, verlor sie in der Europäischen Union viel Autorität. Durch die unnachgiebige Politik in der Eurokrise hatte sie zuvor schon die Sympathien Südeuropas eingebüßt. Die vermeintliche Irrationalität ihres Handelns in der Flüchtlingsfrage entfremdete sie nun auch Frankreich und Osteuropa.

Sozialstaat, Wirtschaft, Demokratie und Rechtstaatlichkeit bilden eine Einheit und ist die Grundlage unserer Stärke. Diese Stärke hat Deutschland auf Platz 6 des Human Development Index katapultiert. […] Und wenn Platz 6 diese 1,7% (der Flüchtlinge) nicht verkraften kann, was soll dann erst Platz 29 sagen oder Platz 67?

schreibt NutzerIn yoda

Das ist fatal, weil Deutschland damit vorerst seine Rolle als Führungsnation der EU verlor, ohne dass ein anderes Land an diese Stelle treten könnte – Frankreich ist zu zerrissen, England zu desinteressiert. Ob der Respekt und die Akzeptanz zurückgewonnen werden können, hängt entscheidend davon ab, ob und wie die Integration der Flüchtlinge gelingt. Die Zuwanderung von einer Million Menschen im Hinblick auf die demografische Situation

Kein Staat kann dies besser meistern als Deutschland

Deutschlands als glückhaft zu charakterisieren, zeugt von eindimensionalem Denken. Ehrlicher wäre es, die Fluchtbewegung als Folge des Kollabierens der staatlichen Ordnung einer ganzen Weltregion zu sehen – und damit als Situation, in der schnell geholfen werden muss.

Kein Land Europas wäre dazu besser in der Lage als Deutschland.

Ja, dieses Deutschland des Dezember 2015 ist ein anderes als das vor zwölf Monaten. Und in der gleichen Zeitspanne, bis Dezember 2016, wird es sich noch einmal verändern, so oder so. Wenn das gelingt, was die Bundeskanzlerin am 31. August mit dem bereits jetzt historischen Satz "Wir schaffen das" vorgab, kann dieses Land stolz sein, stolz auf seine Menschen, stolz auf seine Großherzigkeit und stolz auf seine Kraft. Und weil das ja alles vorhanden ist, nicht überall, aber an vielen Orten, bleibt als moralischer Imperativ stehen: Wir wollen das schaffen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false